Eigentlich sollten Schauspieler ja Phantasie haben. Besonders viel Phantasie hätte man nicht aufbringen müssen, um sich vorzustellen, wie eine medial auf Kurs gebrachte Öffentlichkeit auf die Künstleraktion #allesdichtmachen reagieren würde. Die Zustimmungswerte, die die qua Infektionsschutzgesetz regierungsamtlich verfügten Freiheitsbeschränkungen in der deutschen Bevölkerung erzielen, sind bekannt.
Es geht ja nur wenigen Branchen richtig schlecht damit. Auch die Großverdiener unter den Schauspielern – auffällig viele der Mitwirkenden von #allesdichtmachen sind oder waren in hochdotierten ARD-Produktionen zu sehen – gehören nicht zu den Blutenden. Das läßt zumindest einen Teil der Erregung, die sie mit ihrer Protestaktion auslösten, verständlich erscheinen: Wenn ein Übergewichtiger über Hunger klagt, hält sich das Mitleid in Grenzen.
Zur Erinnerung: Etwa fünfzig deutsche Schauspieler, darunter so prominente Namen wie Ulrich Tukur, Richy Müller, Heike Makatsch, Meret Becker oder Jan Josef Liefers, hatten sich unter #allesdichtmachen in kurzen Videos im Netz satirisch mit dem Thema Corona-Beschränkungen auseinandergesetzt und damit einen Shitstorm geerntet. Den Rest gaben den Rebellen der darstellenden Kunst dann ihre Geldgeber: Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ließen kein gutes Haar an der Aktion.
Einige Schauspieler rudern zurück
Ein Shitstorm ist ein digitaler Empörungstsunami, der alles unter sich begräbt, was der Meinung seiner Betreiber widerspricht. Man könnte auch von einer digitalen Fliegenklatsche sprechen: Schlägt sie zu, bleibt von der nervtötenden Meinung, die ihren Einsatz ausgelöst hat, nicht mehr übrig als ein häßlicher Fleck, der wie ein Fliegenkadaver jetzt dort prangt, wo vorher die nervige Meinung saß.
Da, wo am vergangenen Freitag Heike Makatsch und andere ihre unbequemen Standpunkte kundgetan hatten, klafft jetzt eine Lücke, nachdem sich viele Teilnehmer unter dem Druck der Masse inzwischen von ihren Beiträgen distanziert haben. Und die ist aus Sicht jedes überzeugten Demokraten häßlich wie eine tote Fliege an der Wand. In ihr ist nämlich ein Stückchen Freiheit verschwunden, Freiheit, die früher mal selbstverständlich war.
Etwas Phantasie oder ein Blick in die Geschichtsbücher hätte den Beteiligten eine Ahnung davon geben können, wie ihr Meinungsfreiheitsexperiment ausgehen würde. Ein Blick auf die amerikanische Geschichte, genauer gesagt, auf die McCarthy-Ära, die ja heute gern als der große Sündenfall der amerikanischen Demokratie in der Ära des Kalten Krieges bezeichnet wird, hätte geholfen. Durch den Ost-West-Dualismus und den Durchbruch bei der Atomwaffentechnologie war in den USA ein Klima universeller Beklemmung, kleinmütigen Schwarzweißdenkens und latenter Aggression gegen Abweichler entstanden, das es Senator Joseph McCarthy (1908-1957) leicht machte, in der Gesellschaft nach „unamerikanischen Umtrieben“ zu fahnden und – vorzugsweise in Boheme- und Künstlerkreisen – auch fündig zu werden.
Hexenjäger verorten sich auf der guten Seite
Angst, egal ob vor dem Atomkrieg oder einem tödlichen Virus, bejaht drastische Maßnahmen und macht unempfindlich für differenzierendes Denken. Ein differenzierter, gar nur ein vom Regierungskurs abweichender Blick auf die Lehren des Kommunismus wurde in den USA der Fünziger mit dem Stigma des Querdenkens versehen, nur hieß das damals anders. Gleichwohl ist die ideelle Nähe der „Un-American Activities“ der Nachkriegsjahre zum „Querdenken“ von heute unübersehbar.
So wie damals die Denunziation als „Kommunist“ genügte, um selbst anerkannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Mißkredit zu bringen, genügt jetzt die Möglichkeit, mit „Corona-Leugnern“ und „Querdenkern“ in Verbindung gebracht zu werden. Innerhalb der Filmbranche kam es in der McCarthy-Ära zu Verwerfungen und Anfeindungen, Schauspieler denunzierten unter dem Druck der öffentlichen Meinung und des drohenden Arbeitsplatzverlustes ihre Kollegen. Jeder, der sich auf die Seite der Hexenjäger stellte, war gleichzeitig davon überzeugt, damit einer guten und gerechten Sache zu dienen.
Wenn also ein Schauspieler wie Christian Ulmen seinen #allesdichtmachen-Kollegen mit dem Verweis auf den als rechten Verschwörungstheoretiker verschrienen Ken Jebsen in die Parade fährt, denn dieser, so der „Tatort“-Darsteller wörtlich, „hätte es nicht schöner sagen können“, bringt er sie damit ähnlich in die Bredouille wie Charlie Chaplin oder Drehbuchautor Dalton Trumbo, die sich in der McCarthy-Ära mit dem Vorwurf konfrontiert sahen, die „fünfte Kolonne Moskaus“ zu sein. Man kann darauf nur mit Rückzug reagieren. Verteidigungs- oder Rechtfertigungsversuche machen alles nur schlimmer.
Die „Hetzmasse“ sammelt sich
Einer, der das Regiment der Masse unter dem Eindruck der großen Tyranneien des 20. Jahrhunderts sehr genau unter die Lupe genommen hat, ist Literaturnobelpreisträger Elias Canetti, der Autor von „Masse und Macht“, erschienen 1960, drei Jahre nach dem Tod McCarthys. Canetti beschreibt die Phänomene Massenmanipulation, Massenpsychose und Herdentrieb. Die Masse, so Canetti, brauche eine Richtung, um, „sie auf irgendwelche Ziele zu lenken.“ Ein solches Ziel ist zwangsläufig der natürliche Feind der Masse, nämlich „Menschen, die sich von der Masse auszuschließen suchen“. So entsteht, was Canetti die „Hetzmasse“ nennt: eine zerstörerische Horde, die ungefährdet, „denn die Überlegenheit auf seiten der Masse ist enorm”, ihrem Ziel entgegensteuern kann.
Canettis schockierendster Satz lautet schließlich: „Ein gefahrloser, erlaubter, empfohlener und mit vielen anderen geteilter Mord ist für den weitaus größten Teil der Menschen unwiderstehlich.“ Gerade im Zeitalter der Digitalisierung kann es sich dabei natürlich auch um Rufmord handeln.