Wer sich deutsche Politik der Jahre 2010 bis 2020 vornimmt, kommt an vier Verirrungen nicht vorbei: dem Atomausstieg nach Fukushima ab 2011, der Grenzöffnung ab 2015 und der Corona-Regierungspleite ab 2020. Das sind drei Fehlleistungen, die dem Land dauerhaften Schaden zufügen, gleichwohl als „alternativlos“ (Sprachschatz Merkel) gelten. Und die vierte Verirrung? Es ist die Aussetzung der Wehrpflicht vor zehn Jahren.
Die geht auf den vormaligen CSU-„Shootingstar“ Karl-Theodor von und zu Guttenberg zurück. Er amtierte von Oktober 2009 bis März 2011 als Bundesminister der Verteidigung. Mit ihm ging zufällig am Tag seines Abtritts die Wehrpflicht den Bach runter, obwohl das formell mit seinem Rückzugsdatum nichts zu tun hatte. Der Rücktritt war eine Folge der Plagiate in seiner Dissertation.
Da hatte Guttenbergs an die Wehrpflicht angelegte Axt bereits zugeschlagen. 2010 hatte er zur Lage der Bundeswehr „Ideen für die Zukunft“ präsentiert. Vor allem geht auf Guttenberg zurück, die Wehrpflicht auszusetzen, sie aber in Grundgesetz Artikel 12a stehen zu lassen. Das Bundeskabinett folgte diesem Vorschlag, ab dem 1. März 2011 endeten die Einberufungen. Die gesamte CDU folgte brav, die FDP sah die Erfüllung eines lang gehegten Wunsches. Auch ein CSU-Parteitag stimmte am im Oktober 2010 mit überwältigender Mehrheit zu. Ohne Gegenrede folgten die eintausend Delegierten Guttenberg, der das Ende der Wehrpflicht wie folgt begründete: „Es ist eine sicherheitspolitische wie eine patriotische Verantwortung, die wir für die Bundeswehr haben.“
Der Unwille für das eigene Land zu kämpfen
Damit wurde erneut ein Stück bundesdeutscher Identität über Bord geworfen. Die Wehrpflicht war im Juli 1956 eingeführt worden. Sie sollte außer zur Stärkung der äußeren Sicherheit im Rahmen der Nato, der die Bundesrepublik ein Jahr zuvor beigetreten war, vor allem für die Integration der Streitmacht in den demokratischen Rechtsstaat sorgen. Es begann mit einer zwölfmonatigen Wehrpflicht – gegen den Willen der SPD, die eine Freiwilligenarmee bevorzugt hatte. Seither ist die Dauer des Wehrdienstes mehrfach geändert worden. Am längsten währte sie von 1962 bis 1972 mit 18 Monaten, ehe sie über 15 und 12 Monate bis auf neun Monate (ab 2002) beziehungsweise gar auf völlig unbrauchbare sechs Monate (ab 2010) verkürzt wurde.
Warum das alles? Man wollte jungen Leuten nichts mehr zumuten, zumal Deutschland ja seit 1990 nur noch, wie es damals hieß, „von Freunden umgeben“ war und weil über den Kalten Krieg hinaus ein teils naiver, teils militanter Pazifismus das Land erfaßt hatte. Zudem ist der Unwille, notfalls für das eigene Land zu kämpfen, in kaum einem anderen Staat der Welt so ausgeprägt wie in Deutschland. Mit einer Gallup-Studie wurde 2015 in 68 Ländern repräsentativ gefragt: „Wären Sie bereit, für Ihr Land zu kämpfen?“ Deutschland rangiert mit 18 Prozent auf Platz 66. Ganz vorne liegen dagegen islamisch geprägte Länder sowie China und Israel. Die deutschen Zahlen dürften in Zeiten, in denen die „Friday for Future“-Hüpfer das Bild der Jugend mit prägen, noch postheroischer ausfallen.
Der Kanzlerin ist die Bundeswehr schnurzegal
Und die Folgen? Volker Rühe, CDU-Verteidigungsminister von 1992 bis 1998, sagte 2019 im Berliner Tagesspiegel: „Guttenberg hat die Bundeswehr zerstört … Und kopflos die Wehrpflicht abgeschafft … Danach gab es einige Fehlentscheidungen – unter mehreren Verteidigungsministern, aber unter einer Kanzlerin.“ Richtig, seit 2005 gab es fünf Minister der Union im Berliner Bendlerblock – aber nur eine Regierungschefin. Dieser ist die Bundeswehr schnurzegal, sonst hätte sie der Armee nicht für fünfeinhalb Jahre eine Ursula von der Leyen zugemutet.
Der materielle Zustand der Bundeswehr spricht Bände. Das Aussetzen der Wehrpflicht wirkt sich aber vor allem personell aus. Folge eins: Es fehlt an Nachwuchs. Früher brachte die Wehrpflicht automatisch junge Männer in die Kasernen. Heute sind 20.000 Stellen unbesetzt. Damit stellt sich der geplante Aufwuchs der Truppe auf 203.000 Soldaten als Tagträumerei heraus.
Folge zwei: Das Durchschnittsalter der Soldaten erhöht sich, weil ältere Zeitsoldaten zu Berufssoldaten gemacht werden, damit die Lücken nicht noch größer werden. Letztere machen bereits rund dreißig Prozent aus. „Von unten“ kommt wenig nach. Der Trend zur Söldnerarmee ist unverkennbar. Mit das Gravierendste aber dürfte sein: Ohne Wehrpflicht ist die Bundeswehr im Alltag, in den Familien und in gesellschaftlichen Gruppierungen kaum noch präsent.
Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht
Zwar wird man die Wehrpflicht wohl nicht wieder in Kraft setzen können. Aber Deutschland ist in einer demographischen und mentalen Verfassung, die die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht notwendig macht – zum Beispiel in der Form, daß alle jungen Menschen jeden Geschlechts zwischen 18 und 25 zwölf Monate Dienst am Gemeinwesen oder eben auch in der Bundeswehr leisten. Junge Leute sind schließlich ihr ganzes Leben lang Nutznießer dieses Landes.
Wäre es da nicht angebracht, ein Lebensjahr dem Gemeinwesen zu widmen? Es muß das Bewußtsein geschärft werden, daß die Mentalität eines „Vollkasko ohne Beteiligung“ nicht funktioniert. Zumal angesichts einer sich auch noch so „woke“ gebenden jungen Generation die Debatte um eine allgemeine Dienstpflicht kein Tabu sein darf.
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Josef Kraus ist (gemeinsam mit Richard Drexl) Autor des Buches „Nicht einmal bedingt abwehrbereit. Die Bundeswehr in der Krise“, das im Mai 2021 in Neuauflage erscheint.