Die Präsidentin der EU-Kommission hat einen Traum. In einem Zeitungsbeitrag zählt Ursula von der Leyen grenzübergreifende Beistandsmaßnahmen in Europa auf und schließt daraus auf eine immerwährende europäische Solidarität. Sie sei „sicher, daß Europa bald wieder auf festen Füßen steht. Und zwar gemeinsam“.
Der Traum erinnert an die vielen historischen Projekte für ein gemeinsames Europa, das, basierend auf einer imaginären allumfassenden Solidarität, in eine Föderation oder gar einen Bundesstaat münden sollte. Zum Beispiel das Projekt des Abbé de St. Pierre, der vor knapp dreihundert Jahren einen „Senat d’Europe“ vorschlug. Der alte Fritz hat das seinerzeit mit einer spöttischen Bemerkung gegenüber Voltaire so abgetan: „Der Abt Saint Pierre hat mir ein schönes Werk über die Methode geschickt, den ewigen Frieden in Europa zu begründen und zu erhalten. Die Sache wäre sehr brauchbar, wenn nur nicht die Zustimmung der europäischen Fürsten und noch einige ähnliche Petitessen dazu fehlen würden.“
Der Europäismus hat den Wirklichkeitstest nicht bestanden
Auch heute fehlen sie, die Petitessen. Denn in der Corona-Not haben die europäischen Fürsten zuerst und mit Recht daran gedacht, ihre eigenen Untertanen zu schützen. Der Traum Europa kam danach. Und selbst in der Diskussion um europäische Maßnahmen in und nach der Krise dient Europa vorwiegend als Mittel zum Zweck der eigenen wirtschaftlichen Rettung, Stichwort Eurobonds. Hier wird die Not zum Mittel der Erpressung. Denn es gibt genügend andere Wege. Die EZB läßt ohnehin keinen hängen, der EU-Haushalt hat seine Reserven, die Europäische Investitionsbank kann auch noch ein paar Scheine drauflegen.
Dem Traum der Präsidentin von den Vereinigten Staaten von Europa stehen harte Fakten gegenüber. Der Europäismus hat den Wirklichkeitstest allgemeiner Nützlichkeit für die Sicherheit der Völker nicht bestanden. Es ist immer noch so, daß das Gemeinwohl an der Elle der Nationen gemessen wird. Das schließt eine grenzüberschreitende Kooperation nicht aus und dafür gibt es ja auch zahlreiche Institutionen, angefangen bei der Uno bis hin zu bilateralen Abkommen in Grenzregionen. In Europa ist die Verflechtung soweit gediehen, daß Udo Di Fabio nicht mehr von einem Staatenbund, sondern von einem „Staatenverbund“ redet.
Geht es ans Eingemachte, stößt Europa an seine Grenzen
Eine der Lehren aus der Corona-Krise aber wird sein: Wenn es ans Eingemachte geht, an die Sicherheit der Staatsbürger, an die Lebensräume und Schutzräume mit eigenen Identitäten, dann stößt Europa im doppelten Sinn an seine Grenzen. Es sind sowohl die geographischen als auch die operativen Grenzen.
Ideologen denken selten an Vorsorge oder Prävention. Sie halten ihre Ideologien für Allheilmittel. In diesem Punkt aber haben nicht nur die Kommission, sondern auch die Regierungen in Europa schlicht versagt. Alle waren vorgewarnt. In Deutschland sogar amtlich. Die Bundestags-Drucksache 17/12051 aus dem Dezember 2012 erstellte eine „Risikoanalyse für den Bevölkerungsschutz“ mit erstaunlicher Präzision.
Schon in der zweiten Amtszeit der Regierung Merkel war man also darüber orientiert, daß es Probleme geben kann mit den Schutzmitteln für die Bevölkerung, für das medizinische Personal, für die Krankenhäuser. Jedenfalls hat die Bundesrepublik eine entsprechende Bevorratung an Masken, Beatmungsgeräten und Betten verschlafen.
Niemand kann behaupten, er sei nicht vorgewarnt gewesen
Gleiches gilt für Italiener, Spanier, Briten und Franzosen. Niemand kann behaupten, er sei nicht vorgewarnt gewesen. Auch die Amerikaner nicht. Die CIA veröffentlicht regelmäßig Analysen kommender Krisen. Das tat sie auch 2008, und ihr Bericht wurde auch in Europa publiziert. Darin warnt sie vor einem Virus aus China, das wegen fehlender Therapieoptionen (Medikamente) und Präventionsmöglichkeiten (Impfungen) Millionen Menschen töten könnte. Die Seiten lesen sich wie ein Protokoll aus der Vergangenheit, das die heutigen Zustände aufzeichnet.
Solche Berichte ernst nehmen und die Regierungen zu Maßnahmen bewegen oder solche selbst treffen – das wäre eine Koordinationsaufgabe für die Kommission gewesen und ist es immer noch. Denn bei Pandemien handelt es sich um grenzenlose Gefahren, deren Abwehr supranational koordiniert werden muß, ähnlich der Nato bei militärischen Gefahren.
Zu der Koordination könnte dann auch gehören, zentral Intensivbetten in der EU zu erfassen und Optionen für Verlegungen aufzuzeigen. Dann hätten zum Beispiel in der Anfangsphase nicht Patienten aus dem stark betroffenen Mülhausen nach Toulon geflogen werden müssen, statt sie ins nahe und weniger beanspruchte Freiburg zu verlegen.
Der Staatenverbund kann nützlich sein
Der Staatenverbund Europas kann nützlich sein. Die Ideologie der offenen Grenzen ist es nicht. Weder totale Abschottung noch totale Vergemeinschaftung sind die Lösung. Corona zeigt uns: Internationale Kooperation und nationale Souveränität bleiben der Königsweg für Europa. Man wird wieder intensiver über Kompetenzverteilungen zwischen Region, Nation und Europäischer Union nachdenken und in diesem Sinn auch Osteuropa ernster nehmen müssen.
Mehr noch: Es zeichnen sich erste Konturen einer Geopolitik nach Corona ab. Der Globalismus mit seiner weltweiten Arbeitsteilung hat auf seiner Jagd nach den billigsten Produktionskosten manche Nationalstaaten abhängig gemacht von China. Es rächt sich heute, daß Europa Schutzkleidung und Medikamente vorwiegend dort herstellen ließ. Die Kommunistische Partei Chinas aber hat nicht das Gemeinwohl aller im Sinn, sondern die Weltherrschaft.
Wenn man aus dieser Krise nicht auch geopolitische Lehren für eine Neuordnung Europas und der internationalen Staatenwelt zieht, könnte das Virus auch die EU insgesamt infizieren und dem Erstickungstod näher bringen. Das wären dann keine Petitessen mehr.
JF 16/20