Es ist nicht das erste Mal, daß die türkische Regierung von Recep Tayyip Erdogan das sogenannte Flüchtlingsabkommen mit der Europäischen Union infrage stellt. Dieses Mal jedoch schaffte Ankara unmißverständliche Tatsachen, indem es das Abkommen einseitig aussetzte. Einseitig auch deshalb, weil die geplanten Zahlungen der Europäischen Union selbstverständlich getätigt bleiben, während die Türkei ihren Teil der Vereinbarung vorenthält. Für Erdogan hat das zwei Hintergründe: Zum einen steht die Forderung nach mehr Geldmitteln von der EU im Raum, zum anderen verlangt er von den Nato-Partnern Beistand bei seinen Operationen im Nachbarland Syrien.
Im Zuge der Aufkündigung schickte die türkische Regierung nun Busse mit weiteren Migranten an die Grenzen Griechenlands und Bulgariens. Bilder machten die Runde, wie der arabische Ausläufer des türkischen Senders TRT effektive Routen durch europäisches Gebiet empfiehlt oder auch, wie türkische Behörden die Migranten beim Sturm auf die EU-Außengrenze unterstützen sollen.
Von europäischer Seite bleibt die Haltung uneindeutig. Von deutscher Seite gibt es Signale der unbedingten Aufnahmebereitschaft, dem Verständnis für die türkische Option durch den CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen aber auch eher kritische Worte, die sagen, ein zweites 2015 dürfe sich nicht mehr wiederholen. Aus dem Ausland kommen vermehrt Signale der Solidarität und handfeste Unterstützung für Griechenland und Bulgarien im Grenzschutz.
Kooperation oder Ablehnung
Eine Antwortmöglichkeit auf die Frage, wie nun mit Erdogan umzugehen ist, bietet die Spieltheorie mit dem Modell des Gefangenendilemmas:
In dieser Situation werden zwei Gefangenen getrennt voneinander vernommen und haben die Wahl, das ihnen vorgeworfene gemeinsame Verbrechen entweder zu gestehen und den Komplizen damit auszuliefern, oder zu schweigen. Das Schweigen wird als Kooperation mit dem Komplizen gewertet, das Aussagen als Defektion. Die Auszahlungen werden als Jahre im Gefängnis dargestellt und sind daher negativ.
Kooperation | Defektion | |
Kooperation | -2 / -2 | -10 / -1 |
Defektion | -1 / -10 | -4 / -4 |
Die bestmögliche Auszahlung hat ein Spieler daher dann, wenn er den anderen verrät, während dieser aber das Verbrechen leugnet oder schweigt. Bei einmaligem Spiel wird davon ausgegangen, daß das Ergebnis immer wechselseitige Defektion ist. Es handelt sich um ein sogenanntes Nash-Gleichgewicht, also die Situation, in der es keinem Spieler gelingt, sich durch die Wahl einer anderen Handlungsstrategie besser zu stellen.
Soziale Normen und Präferenzen
Bei der Übertragung des Gefangenendilemmas auf das reale Leben und die Politik ist jedoch klar, daß dabei auch Faktoren wie soziale Normen und Präferenzen einen Einfluß haben. In der Realität kommt es ebenfalls weniger zu einer einmaligen Situation – man sieht sich bekanntlich immer zweimal im Leben oder wie im Fall Erdogan vs. EU sehr oft.
Forscher nahmen das zum Anlaß, das Gefangenendilemma unter anderen Bedingungen weiter zu erforschen. Demnach wäre es in diesem Fall für beide Spieler die beste Lösung, wenn sie wechselseitig kooperieren, für den Einzelnen aber der Betrug durch Defektion die einträglichere Handlungsmöglichkeit darstellt.
Die bekannteste Testreihe wurde hierzu von Robert Axelrod mit dem Turnier der RAND-Kooperation durchgeführt. Hierbei traten verschiedene Strategien zur Lösung des Gefangenendilemmas gegeneinander an mit dem Ziel, jeweils die höchste Auszahlung zu generieren. Sieger des Turniers war schließlich die Strategie „Tit for tat“, also „Wie du mir, so ich dir“.
Vor allem Deutschland verhielt sich bislang nachsichtig
Die Strategie sieht vor, im ersten Zug zu kooperieren. Lehnt die Gegenseite ab, wird dies ebenso mit Defektion beantwortet, bis eine Verhaltensänderung eintritt. Gute Ergebnisse lieferten auch Strategien, die nachsichtiger agierten, einmalige Defektion unbeantwortet ließen und erst bei mehrfacher zur Vergeltung griffen. In seinem Buch „Die Evolution der Kooperation“beschrieb Axelrod grundsätzlich, daß die Bereitschaft zur Vergeltung eine der wichtigen Konsequenzen aus den Ergebnissen der Versuche sei.
Im Umgang mit Erdogan stehen die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten erneut vor der Frage, ob man die Kooperation sucht oder die Defektion von türkischer Seite beantwortet. Zwar behauptet die Türkei selbst, die EU verhalte sich unkooperativ, indem sie sich nicht auf seine Seite im Syrienkonflikt schlage, doch dürfte jedem klar sein, daß die Solidarität der europäischen Staaten und der Nato sich nicht auf einen aktiven Eingriff türkischer Interessenpolitik in Syrien richten kann.
Bislang reagierte insbesondere die Bundesrepublik auf das Verhalten der Türkei stets nachsichtig unter Betonung, man lege Wert auf weitere Kooperation. Von Seiten der deutschen Politik stehen die Zeichen auch weiterhin offen darauf, türkischen Forderungen nachzugeben. Das Problem mit dieser Strategie ist offensichtlich: Die Türkei zeigt mit dem einseitigen Aufkündigen, daß sie sich nicht an Verträge gebunden fühlt, insbesondere dann, wenn sie die Möglichkeit sieht, ihre Interessen durch das gezielte Aufkündigen oder Nichteinhalten durchzusetzen.
Weitere Kooperation der EU verschärft das Problem
Es kann daher in Zweifel gezogen werden, daß weitere Kooperation eine Verhaltensänderung herbeiführen kann, mehr noch, gemäß des Gefangenendilemmas lädt es die Türkei weiter zu taktischer Defektion ein.
Das Druckmittel der Türkei, globale Migrationsströme, wird dadurch nicht abgeschwächt, es bleibt erhalten. Mit Blick auf Wahlen in den entsprechenden europäischen Ländern, können die Forderungen immer wieder gestellt werden oder offen gesagt: Die Länder zeigen sich offen, Erpressung nachzugeben.
Deutsche Politiker forderten nun immer wieder, es dürfe keine Eskalation geben, aus Angst vor bösen Bildern an den europäischen Außengrenzen. Der FDP-Außenpolitiker Graf Lambsdorff fordert exemplarisch für die Freidemokraten zwar den Schutz der Außengrenzen, jedoch verbunden mit der Einreisemöglichkeit für die entsprechenden Migrantengruppen, was de facto ein Nachgeben vor Erdogan bedeutet.
Nicht zu vergessen ist das Signal, welches an weitere aufbruchsbereite Migrantengruppen in Asien und Afrika gesendet würde, wenn man in dieser Situation nachgibt. Auch dies spricht nicht für eine Verhaltensänderung Erdogans, mehr für eine Bestätigung.
Die EU muß sich auf weitere Ablehnung einstellen
Eine wechselseitig erfolgreiche Strategie erkennt nun an, daß die Regierung Erdogan versucht, auf den eigenen Vorteil zu spielen und die Nachbarstaaten zu erpressen. Die Reaktion darauf wäre die Vergeltung in Form von Defektion. Wenn die Türkei nicht bereit ist, sich an freiwillig geschlossene Vereinbarungen zu halten, so deklassiert sie sich als Partner. Das muß sich jedoch im weiteren Verhalten gegenüber der Türkei widerspiegeln.
Als symbolischen Akt könnte die EU etwa die Aufnahmegespräche mit der Türkei offiziell abzubrechen. Auch weitere Handlungsmöglichkeiten auf nationaler und europäischer Ebene bestehen, um Aggressionen aus der Ägäis diplomatisch und spürbar zu entgegnen.
Dies wäre auch notwendig, denn mit Blick auf Erodgans Aktivitäten insbesondere auf dem Balkan und in Mitteleuropa ist nicht davon auszugehen, daß eine einmalige Ablehnung eine mehr als nur taktische Verhaltensänderung hervorbrächte. Die europäischen Staaten werden sich daher damit abfinden müssen, noch länger mit defektivem Verhalten der Türkei klarzukommen.