Erneut reden Vertreter der etablierten Parteien davon, die AfD mit einem Parteienverbot, mindestens aber mit der Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu überziehen. Der Thüringer Innenminister und amtierende Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Georg Maier (SPD), führte zur Begründung auch angeblich geschichtsrevisionistische Vorstöße mit Begriffen wie „Vogelschiß, Denkmal der Schande und jetzt Ermächtigungsgesetz“ an.
Beginnen wir beim „Ermächtigungsgesetz“. Der Hinweis auf das Gesetz, mit dem die Nationalsozialisten im März 1933 ihrer Diktatur den Mantel der Scheinlegalität umlegten, handelt es sich um die polemische Zuspitzung, die auf das Potential, die Latenz und die Gefahren des neuen Epidemiegesetzes hinweist. Sie könnten zum Ausbruch kommen, sofern ein böser politischer Wille über die nötige Macht verfügt. Außerdem ist der Vergleich mit der NS-Zeit im bundesdeutschen Diskurs keine Ausnahme, er ist die Regel. Die öffentliche Erregung des Genossen Minister über den Begriff ist also eine künstliche und kalkulierte: Er will einem politischen Konkurrenten, der seiner Partei das Wasser abzugraben droht, Schaden zufügen und dazu staatliche Machtmittel nutzen.
Problematische Begriffe
Das Wort „Vogelschiß“ ließ Fraktionschef Alexander Gauland im Juni 2018 auf dem Bundeskongress der AfD-Nachwuchsorganisation Junge Alternative im thüringischen Seebach fallen. Es steht in einem Kontext: „Ja, wir bekennen uns zu unserer Verantwortung für die zwölf Jahre. Aber, liebe Freunde, Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiß in unserer über 1000-jährigen Geschichte.“ Gewiß, der „Vogelschiß“ war unangemessen, ein stilistischer Fauxpas, der nicht „den zugrundeliegenden Sachverhalten entspricht“ (Aristoteles). Er war jedoch ausdrücklich auf die kurze Dauer des Dritten Reiches gemünzt, also quantitativ, nicht qualitativ gemeint.
Zum „Denkmal der Schande“, von dem der thüringische AfD-Chef Björn Höcke 2016 in Dresden sprach, wurde bereits im November 2017 in der JUNGE FREIHEIT kurz dargelegt, „daß es sich bei dem Begriff um einen genitivus explicativus handelt, einen erläuternden Genitiv, der sich auf ein anderes Objekt bezieht und es näher beschreibt. Das Objekt der Schande ist ganz klar der Holocaust und nicht das Denkmal.“ Die Kritik beziehe sich darauf, „daß diese Schande zum zentralen Element des nationalen Selbstverständnisses erhoben wird“.
Den unausgesprochenen Hintergrund der Aussage bildeten zwei Koryphäen des Kultur- und Medienbetriebs: Im Oktober 1998 hatte Martin Walser sich in der Frankfurter Paulskirche gegen die „Dauerpräsentation unserer Schande“ gewandt. Im November legte Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein nach: „Nun soll in der Mitte der wiedergewonnenen Hauptstadt Berlin ein Mahnmal an unsere fortwährende Schande erinnern.“
Rhetorik eines geistigen Bürgerkriegers
In seinem 2019 erschienenen Büchlein „Was heißt hier ‘wir?’ Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten“ interpretiert der Literaturprofessor Heinrich Detering die grammatische Form des genitivus explicativus gegenteilig. Er schreibt: „Die Art, in der Höcke sich die bei Augstein oder Walser gefundene Wendung vom ‘Mahnmal der Schande’ aneignet, in der Zweideutigkeit von genitivus obiectivus (das Denkmal erinnert an die Schande) und genitivus explicativus (das Denkmal ist schändlich), gibt ein besonders instruktives Beispiel für die Kunst der subtilen Ambivalenz, die ihm hier, nicht anders als Gauland, jederzeit den Rückzug ins Unanstößige offenhalten soll. Im Vertrauen auf eine öffentliche Wahrnehmung, die sich mit der Skandalisierung eines Wortes oder eine Wendung begnügt, will er nachträglich den Kontext vergessen machen, in dem das eigentlich Gemeinte gar nicht zu überhören war.“ (S. 27-28). Für Höcke sei die „Schande (…) das Denkmal selbst, als Ausdruck für den Gemütszustand (…) eines total besiegten Volkes“.
Die Konrad-Adenauer-Stiftung veranschlagte den politischen Gebrauchswert von Deterings Sprachkritik so hoch, daß sie sie in der Tradition von Thomas Mann und Dolf Sternberger verortete und Victor Klemperer zitierte: „Wörter können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbewußt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ Die Broschüre ist übrigens die Langfassung einer Rede, die Detering im November 2018 vor dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken gehalten hatte. Zur Erhebung der versammelten Christenherzen hatte er in der Manier eines geistigen Bürgerkriegers verkündet, die Sprache Alexander Gaulands sei „bloß der schlecht verkleidete Jargon von Gangstern“.
Genitivus, Metonymie, Synekdoche
Deterings Deutung des genitivus explicativus greift zu kurz. In der Bundestagsdrucksache 14/3126 vom 6. April 2000 findet sich der Satz: „Denkmäler der Schande und der Trauer, des Stolzes und der Freude sind notwendige Grundsteine des neuen Deutschlands und der neuen Bundeshauptstadt.“ Nach der „Deutschen Übungsgrammatik“ von Gerhard Helbig und Joachim Buscha (Leipzig 1987) steht diese Genitiv-Variante für ein „Bedeuten-Verhältnis“. Ein Beispiel: „Der Strahl der Hoffnung“ meint: „Ein Strahl, der Hoffnung bedeutet.“
In einem ersten Schritt ließe sich tatsächlich folgern, daß der Begriff „Denkmal der Schande“ tatsächlich aussagen will: „Ein Denkmal, das Schande bedeutet.“ Doch diese Lesart läßt den semantischen Kontext außer acht. Das „Denkmal der Schande“ enthält eine Metonymie, eine Bezeichnungsübertragung. Mit Augstein, mit Walser im Hintergrund, bezieht die „Schande“ sich auf dem Holocaust, dem sie als essentielles Wesens- und Bedeutungsmerkmal eigen ist. Genauer gesagt, handelt sich um eine metonymische Unterform, um eine Synekdoche, um eine Vertauschung der Bezeichnungen zwischen dem Ganzen und einem Teil von ihm, wobei dieser Teil – „Schande“ – für das Ganze – „Holocaust“ – genommen wird. Der Ausdruck „Denkmal der Schande“ enthält also eine Verdoppelung des erläuternden Genitivs: Das Denkmal, das die Schande bedeutet, die der Holocaust bedeutet.
Die Machtverhältnisse genau kalkulieren
In der Bilanz waren Gaulands und Höckes Aussagen schwere Fehler, die, wie Talleyrand wußte, in der Politik schwerer wiegen als Verbrechen. Ein Politiker muß nüchtern die Folgen kalkulieren, die er mit seinen Formulierungen auslösen kann, was voraussetzt, daß er die Umstände und Voraussetzungen, unter denen er handelt – und reden heißt handeln –, genau im Blick hat.
Es hilft wenig, im Gegenzug auf skandalöse Äußerungen aus den Reihen der Etablierten zu verweisen, ihnen Doppelmoral, Heuchelei, Zynismus, Verlogenheit vorzuwerfen. Die Vorwürfe treffen allesamt zu, aber sie gehen am Kern vorbei. Die Kernfrage ist die Machtfrage. Die einen haben die Macht, die anderen haben sie nicht. Die einen bestimmen die Spielregeln und legen fest, wie sie im Einzelfall auszulegen sind; die anderen sind der gegnerischen, ja feindlichen Auslegung unterworfen.
Deshalb darf eine taz-Autorin Polizisten zu Müll erklären, dürfen die Jusos die Nachwuchsorganisation der palästinensischen Fatah schwesterlich an die Brust drücken, deshalb darf auf dem Parteitag der Linken von der Erschießung der Reichen phantasiert werden, ohne daß sich ein Mediensturm erhebt und sich der Verfassungsschutz oder die Staatsanwaltschaft bemüßigt fühlen, tätig zu werden. Souverän ist nun mal, wer definiert, was ein Skandal ist und was nicht. Konservative und Rechte reden aus der Position politischer, medialer, diskursiver Ohnmacht. Deshalb müssen sie klüger, reflektierter und disziplinierter sein als die anderen.
Von Herbert Wehner (SPD) lernen
Das ist leichter gesagt als getan. Für Politiker, die permanent im Sperrfeuer stehen, an denen sich täglich die machtgestützte und machtgeschützte Dummheit in demütigender Weise erprobt, ist irgendwann die Grenze des Erträglichen erreicht. Das ist menschlich verständlich. Und da passiert es, daß ihnen Worte entschlüpfen, die sie mit kühlerem Kopf und geringerem Erregungspegel vermieden hätten.
Das Beispiel Herbert Wehners, des legendären SPD-Fraktionschefs im Bundestag, kann als Vorbild wirken. In einer erregten Parlamentsdebatte hielten ihm Zwischenrufer aus der Union seine Vergangenheit als KPD-Funktionär vor. In seiner Entgegnung erinnerte Wehner an ein Gespräch mit dem SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher: Man würde ihm doch wegen seiner kommunistischen Vita die Haut bei lebendigem Leibe abziehen. Schumacher habe geantwortet: „Und du bist einer, der das aushält.“
Um „das“ auszuhalten, sind unnötige Gefahren zu vermeiden. Das gilt erst recht hinsichtlich der Bewertung der NS-Geschichte. Sie ist ein politisches Minenfeld und – mehr noch – ein neurotischer Bezirk, wo Flapsigkeit sich verbietet. Die übergroße Mehrzahl der Journalisten, Politiker, der akademischen und sonstigen Multiplikatoren verfügt über kein Geschichtsbewußtsein mehr. Die NS-Zeit stellt für sie ein schwarzes Loch dar, in der die deutsche Geschichte verschwunden ist. Die „deutsche Vergangenheit“ ist für sie bloß eine Quelle von Verdächtigungen und ein Stimulus für die autoaggressive „Vergangenheitsbewältigung“ als die letzte Leidenschaft eines politischen Moribundus. Für grammatische Feinheiten sind sie unempfänglich.
Geistige Unabhängigkeit von der Matrix
Trotzdem – und gerade deshalb – darf, wer Alternative sein will, sich die Sprachregelungen, die ideologischen Prämissen, kurzum: die Matrix der anderen nicht zu eigen und von ihr geistig abhängig machen. Die Frage beispielsweise, ob ein Mal, das der größten Schande der Nation gedenkt, in die Mitte ihrer Hauptstadt gehört, ist legitim und sogar zwingend, aber sie gehört nicht ins Bierzelt. Was Maier & Genossen als „Geschichtsrevisionismus“ verdammen, ist in Wahrheit die Kritik am Geschichtsdogmatismus und an der zivilreligiösen Orthodoxie.
Und was „Ausdruck für den Gemütszustand (…) eines total besiegten Volkes“ genannt wurde, hat Freud als die „erotische Bindung“ des masochistischen Ich an ein präpotentes und erdrückendes Über-Ich beschrieben: In ihr entäußere sich der „Trieb zur inneren Destruktion“. Daß die Etablierten verhindern wollen, diese Zusammenhänge zu benennen, ist logisch. Auch ihre Verbots- und Verfolgungsphantasien sind Ausdruck dieses Triebes.