Der Historienfilm „Flucht nach Varennes“ des italienischen Regisseurs Ettore Scola aus dem Jahr 1982 ist lehrreich für die Gegenwart. Er spielt 1791 in Frankreich, in einer End- und Umbruchzeit. Zwei Jahre sind vergangen, seit dem Bastille-Kommandanten der Kopf abgeschnitten wurde und der Pöbel die königliche Familie zum Umzug von Versailles in das Pariser Tuilerien-Schloß genötigt hat, wo sie unter scharfer Kontrolle steht und Demütigungen und Bedrohungen ausgesetzt ist.
Ludwig XVI. ist kein König von Frankreich mehr, der aus angestammtem beziehungsweise göttlichem Recht den Staat verkörpert und dem die Untertanen Treue schulden, sondern nur noch der konstitutionelle König der Franzosen, dessen Rechte und Kompetenzen unter dem Vorbehalt eines fiebrigen Revolutionsdiskurses stehen.
Noch hält eine starke Fraktion in der Nationalversammlung die Monarchie als Katechon, als Aufhalter, gegen die Total-Umstürzler für nützlich, welche die Gesellschaft von Grund auf neu erfinden wollen. Doch die Verhältnisse sind im Fluß, und da sieht es für den König nicht gut aus. Der radikale Flügel der Jakobiner wird immer stärker, die Stimmung im Land ist explosiv und wird sich bald im Großen Terror entladen.
In dieser Zeit beschäftigt Ludwig XVI. sich, wie Jules Michelet in seiner Geschichte der Französischen Revolution schreibt, mit dem Schicksal der englischen Könige Karl I. und Jakob II.. Der eine hat den Kopf verloren, weil er den Konflikt mit dem Parlament bis zum offenen Bürgerkrieg eskalieren ließ. Der andere, der ebenfalls im Streit mit dem Parlament lag, versuchte ins Ausland zu fliehen, was das Parlament als Abdankung von der Regierung deutete und zum Thronverlust führte.
„Fliehen, fliehen, fliehen“, hatte unsicherer Überlieferung zufolge der sterbende Graf Mirabeau, inoffizieller Berater des Königs und Mittler zwischen ihm und der Nationalversammlung, noch auf einen Zettel gekritzelt, bevor er – vermutlich von politischen Gegnern vergiftet – 42jährig verstarb.
1791 also, in der Nacht vom 20. zum 21. Juni, beginnt die Filmhandlung. Vom Tuilerien-Schloß setzt sich eine Postkutsche in Bewegung, in der sich eine illustre Reisegesellschaft versammelt hat. Da ist der seinerzeit populäre Schriftsteller Restif de la Bretonne (Jean-Louis Barrault), der aufgrund von Gerüchten und heimlichen Beobachtungen eine Sensation wittert. Thomas Paine (Harvey Keitel), gebürtiger Engländer und einer der Gründungsväter der USA, ist ebenfalls auf Erkundungstour. Unterwegs steigt der alte Casanova (Marcello Mastroianni) hinzu, der den unwürdigen Lebensumständen beim Grafen Waldstein zu entkommen sucht.
Die Revolution ein korrigierbarer Irrtum?
Den Mittelpunkt bildet eine schöne, geheimnisvolle Dame, die mit ihrem Diener Monsieur Jacob (Jean-Claude Brialy) unterwegs ist und zwei geheimnisvolle Pakete mit sich führt. Der scharfsinnige Restif de la Bretonne erkennt in ihr die Comteß de la Bord, eine Vertraute der Königin Marie Antoinette. Nachdem ihr Inkognito gelüftet ist, macht die Comteß – gespielt von Hanna Schygulla – keinen Hehl daraus, daß sie unverändert die Sache des Königs vertritt und die Revolution für einen Irrtum hält, der schon in Kürze korrigiert werden wird. In Wahrheit sei das Volk tief königstreu, wofür es „aberhunderte Beispiele“ gebe.
Sie erzählt vom Besuch Ludwig XVI. 1786 im neuen Kriegshafen von Cherbourg, wo das Volk dem im prachtvollen Staatsgewand erschienen König begeistert gehuldigte hatte. Niemals – auch nicht in den Filmen Faßbinders – ist die Schygulla schöner und ätherischer gewesen als in dieser Rolle. Schon wie sie den Namen der Hafenstadt ausspricht: „Cherbouurg“, sorgt beim Zuschauer für Gänsehaut.
Nach und nach erschließt sich den Reisenden, daß einige Stunden zuvor eine andere Kutsche denselben Weg genommen hat. Darin befindet sich die königliche Familie, die heimlich und in Verkleidung aus Paris abgereist ist und in die österreichischen Niederlande zu fliehen versucht. Der Zuschauer weiß, daß die Flucht im lothringischen Varennes enden wird und die Comteß, die in irgendeiner Weise damit zu tun hat, in einer „Mission Impossible“ unterwegs ist. Auch für sie wird das bald zur schmerzhaften Gewißheit. Befinden sich die Rechten, die Konservativen, heute nicht in einer ähnlichen Situation?
Die Rechte in einer „Mission Impossible“
Vor drei Monaten publizierte die Philosophin Caroline Sommerfeld die scharfsinnige Analyse eines Fernsehgesprächs mit dem Grünenchef Robert Habeck, der ohne jeglichen Befähigungsausweis von seinen medialen Schleppenträgern bereits zum nächsten Kanzler ausgerufen wird. Habeck, so Sommerfeld, definiere Demokratie als „linksliberal-‘progressiven’ Wertekanon, der bestimmt ist von Fortschritt durch social engineering, ‘Toleranz’ und Minderheitenpolitik, wozu auch die gesamte kulturmarxistische Programmpalette samt ‘Kampf gegen Rechts’“ gehöre.
Aus diesem „wertegeleiteten“ Demokratieverständnis ließe sich leicht die Berechtigung ableiten, auf das undemokratische, zentralistische chinesische Modell zurückzugreifen, um im Zweifelsfall die demokratischen „Werte“ vor ihren Feinden zu retten. Sommerfelds Schlußfolgerung: „Wer grüne Preisdemokraten wählt, bekommt bolschewistische Steuerungstechnologen.“ Gegen den linksgrünen Jakobinismus insistiert sie auf den Prozeduren der Demokratie, auf Bürgerbeteiligung usw.
Der junge Johannes Poensgen, eine der intellektuellen Nachwuchshoffnungen der Rechten, hat darauf eine Erwiderung verfaßt (die Sommerfeld ebenfalls erwidert hat). Poensgen ist das Prozedurale, „die Demokratie als tote Verfahrensvorgabe“, zu wenig. Unter dem Titel „Die Republik als Erzieher“ fragt er unter Bezug auf Machiavelli, „welche Tugenden – modern welcher Lebensstil – zur sittlichen Grundlage der Republik“ zu machen seien. „Republiken brauchen ein staatsbürgerliches Bewußtsein, das sie in irgendeiner Weise den Bürgern einimpfen müssen.“
Woher aber den Impfstoff nehmen? „Es bleibt zunächst das Volk. Auf der Rechten ist man sich einig, daß das Volk als Ethnos allein den Demos stellen kann. Die Homogenität des Volkes erzeugt den Lebensstil seiner ganz bestimmten Demokratie.“
Gemeint ist eine kulturelle, geistige, seelische Substanz, die zur Geltung gebracht und geschützt werden muß und die zugleich „Formasse“ ist. Denn es brauche, um sich gegen Globalismus zu behaupten, einen „gelebten politischem Stil“, der von „Eliten“ repräsentiert und vertreten wird, die über den Wahltag hinausdenken. „Nur die ‘feste und bestimmte Lebenseinheit’, die der Repräsentation in einer führenden Schicht bedarf, berechtigt die Machtfrage im Positiven, wie im Negativen zu stellen.“ Die wichtigste zu klärende Frage wäre daher: „Wozu soll und kann die Republik heute Volk wie Elite erziehen?“
Was aber ist die Lage?
Ob die Republik sich nun prozedural oder tugendgesättigt behauptet oder beides: Wer von „Machtfragen“ spricht, muß sich zuvor eine andere Frage vorlegen: Wie ist die Lage? Wie sind die Verhältnisse? Was Poensgen schreibt und anmahnt, hat Arnold Gehlen schon in „Moral und Hypermoral“ abgehandelt. Gehlen nennt den Staat „die rational organisierte Selbsterhaltung eines geschichtlich irgendwie zustande gekommenen Zusammenhangs von Territorium und Bevölkerung“.
Diese „schließt die geistige Behauptung und das Bekenntnis einer Nation zu sich selbst ebenso ein“, wie die „Macht eines Volkes, den physischen wie den moralischen Angriff auf sich unmöglich zu machen“. Die dazu nötigen Tugenden lauten: Nüchternheit, Wachsamkeit, Ausdauer, die Fähigkeit zur Konzentration, rationaler Gefahrensinn. Gelen spricht ausdrücklich von „politischen Tugenden“, die als „letzten Halt: Ehrgefühl“ haben. Doch er sagt auch klipp und klar: Den Deutschen sei diese „bedeutendste geschichtliche Leistung einer Nation (…) nicht geglückt“.
50 Jahre nach „Moral und Hypermoral“ und 30 Jahre nach der Wiedervereinigung lädt Deutschland mit masochistischer Lust die halbe Welt zum moralischen Angriff auf sich und zur Fremdbedienung ein. Das Staatsgebiet wird preisgegeben; die Staatsgewalt behandelt als Feind, wer dagegen Einspruch einlegt; und das Staatsvolk sieht seiner Aufhebung und Auflösung blöde zu. Eliten gibt es höchstens im funktionalen, doch weder im geistigen, ethischen noch ästhetischen Sinn.
Das JF-Interview mit Günter Maschke von 1997
Wie kann und soll eine Rechte die Vakanz füllen? Sie sei nur ein „mikroskopisches Phänomen“, sagte Günter Maschke vor 22 Jahren im Interview mit der JUNGEN FREIHEIT, erschöpfe sich in „kurzatmiger Bildungshuberei“ und „rechter Häppchenkultur“, anstatt eine „Ausmessung der Krise, der wahrhaft furchtbaren seelischen und spirituellen Situation des modernen Menschen (…), die alles Politische übersteigt“, vorzunehmen.
Ganz so schlimm steht es heute nicht mehr. Andererseits: Wie könnte es anders sein? Die Rechte verfügt aktuell über keine akademischen Referenzgrößen dafür sorgt schon die Hochschulpolitik. Ihre materiellen Möglichkeiten sind minimal und haben sich erst durch den Einzug der AfD in die Parlamente verbessert. Sie verfügt über keine Sozialwerke, um fähigen Köpfen ein Sabbatjahr zu finanzieren oder wenigstens die Tätigkeit als Taxifahrer oder Objektwächter zu ersparen. Sie hat keine Ruhezonen, weder im praktischen noch im übertragenen Sinne, in die sie sich zwecks Sammlung und Muße zurückziehen könnte. Wer sich hier betätigt, ist zugleich Frontlinie und Hinterland. Auf die Dauer überansprucht das auch den Stärksten. Die Macht verschleißt den, der sie nicht hat.
Und das Volk als Legitimations- und Kraftquell? Dazu hat Maschke sich ebenfalls klar geäußert: „Auch die Rechte glaubt heute an die Volkssouveränität und sie ist sogar vulgär-rousseauistisch: das Volk ist gut. Bei ihr ist aber nicht der Kapitalismus schuld, sondern die Vergangenheitsbewältigungsindustrie oder die Alliierten oder das korrupte Fernsehen.
Doch muß man wohl zugeben, daß das deutsche Volk seelisch und intellektuell völlig verkrüppelt und heruntergekommen ist; es ist um keinen Deut in einem besseren Zustand als die politische Klasse. Das wagt die Rechte auch nicht zu sagen. Viele Dinge, die als rechts gelten, sind es keineswegs – man denke nur an die seltsame Liebe vieler Rechter zu unserem Grundgesetz, an die Fata Morgana eines rechten Verfassungspatriotismus!“ Ob die 13 Prozent AfD-Wähler diesen Befund korrigieren, ist die Frage.
Eine letzte Huldigung an das tote Objekt
Zurück zum Film. Die Reisegesellschaft hat erfahren, daß der König in Varennes von Revolutionsanhängern festgesetzt wurde. Die Comteß versteht die Welt nicht mehr. „Aber das Volk, das gute Volk, warum schützt es seinen König nicht?“ Monsieur Jacob ist genauso ratlos: „Ich weiß nicht, aus der Nähe sieht es so anders aus.“ Allmählich dämmert beiden, daß das Volk, in das sie ihre Hoffnung gesetzt haben, bloß noch eine Imagination ist. Die Leute, die mit Sensen und Dreschflegeln die Weiterfahrt des Königs verhindern, sind ausgezehrt, verhärmt, hart, bitter, böse, offen feindselig. Es gibt eine kurze, albtraumhafte Szene, in der die Comteß beinahe dem Lynchmob zum Opfer fällt.
Der König der Franzosen aber, der sich als Dienstbote verkleidet aus dem Schloß stahl, der seine Identität ableugnete und diese erst vor Zeugen einräumte, hat damit den Rest an monarchischer Würde und Autorität und das Ancien Régime, für das er stand, endgültig verspielt. Er hatte gehofft, als König von Frankreich nach Paris zurückzukehren. Jetzt ist er nur noch eine lächerliche Puppe, die man als Trophäe heimführt, die man herumschubst, gefangensetzt und anderthalb Jahre später auf das Schafott schicken wird.
Und die zwei geheimnisvollen Pakete, die die Comteß mit sich führt? Sie enthalten die prächtige Staatsrobe, die der König in Cherbourg getragen hatte. Vielleicht – hier folgt der Film einem Gedanken von Jules Michelet – hätte sie ihn gerettet, wenn er den Mut, die innere Kraft und die Risikobereitschaft besessen hätte, sie auf der Flucht anzulegen und darin vor das Volk zu treten. Nun behängt die Comteß einen Kleiderständer mit ihr und geht in die Knie. Es ist eine letzte, schöne Huldigungsgeste. Sie gilt einem toten Objekt.