Wer nach den Ursachen des rauschhaften Höhenflugs der Grünen fragt, stößt auf eine Vielzahl möglicher Erklärungen. Eine der wichtigsten könnte sich mit dem Namen Victor Hugos verbinden, dem der Satz zugeschrieben wird: „Nichts ist wirkungsmächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“
Tatsächlich ist eine gewisse Abdankung traditioneller Werte in der westlichen Welt kaum zu übersehen. Die christlichen Kirchen fristen hier längst ein kümmerliches Dasein. Statt ihre theologischen Botschaften offensiv zu verkünden, knicken sie vor diversen Zivilreligionen ein. Die Ehe zwischen Mann und Frau, ein zentrales, natur- beziehungsweise vernunftrechtlich grundiertes Rechtsinstitut nicht nur des christlichen Abendlands, wurde in mehreren Ländern „dekonstruiert“.
Das bedeutet mittels Ausdehnung auf schwule und lesbische Paare der Lächerlichkeit preisgegeben. Unter dem Etikett eines irrlichternden „Liberalismus“ und ethischen Universalismus werden kulturfremde Feinde von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat, die sich zur islamischen Scharia als ranghöchstem, über jeder Staatsverfassung stehendem Gesetz bekennen, massenhaft nach Europa gelassen.
Moderner Ablaßhandel
Diese Entwicklung betrifft, wie angedeutet, mehr oder weniger alle Staaten Westeuropas und Nordamerikas. Daß Deutschland eine Vorreiterrolle spielt, dürfte mit jenem „Deutschen Sonderweg“ korrespondieren, der hier aber weniger einer politikwissenschaftlichen als einer mentalitätsgeschichtlichen Deutung bedarf. Der Sonderweg erweist sich dann als Verklammerung von „German Angst“ (etwa in der Gestalt von AKW- und Klimahysterie) mit zwei weiteren Phänomenen, die German Schuldstolz und German Weltbeglückung genannt seien.
Zu diesem Sonderweg gehört ferner ein hedonistischer Hyperindividualismus, der prägende kollektive Bindungen − sei es als Familie, heimatliche oder nationale Gemeinschaft – strikt zurückweist, vom Individuum durch einen modernen Ablaßhandel (insbesondere in Form einer teuren „Weltbeglückung“) aber auch erkauft werden muß.
Keine andere Partei spielt auf dieser irrational-metaphysischen Klaviatur so perfekt wie die Grünen. Bereits ihr demoskopischer Aufschwung von 2011/12, nach der Havarie des Kernkraftwerks Fukushima, speiste sich aus dem bundesdeutschen Angst- und Paniksyndrom. Der Dürresommer 2018 mit dem Auftreten der „Klima-Prophetin“ Greta Thunberg übertrifft die damalige Untergangsstimmung aber deutlich. Das grüne „Panikorchester“ läuft zur Höchstform auf. Nie zuvor skizzierte Botho Strauß‘ Metapher vom „anschwellenden Bocksgesang“ das Juste Milieu der Bionade-Trinker so treffend wie heute.
Irrationale Befindlichkeiten
Freilich erzielen auch ausgetüftelte Programme und „Graswurzelaktionen“ nur eine begrenzte Reichweite, wenn sie von einem durchschnittlichen Parteipersonal präsentiert werden (ein Problem, das CDU/CSU und SPD seit längerem begleitet). Mit ihrem (Co)-Parteivorsitzenden Robert Habeck sind die Grünen hier einen großen Schritt vorangekommen. Der von seinen Getreuen als charismatisch empfundene Literaturwissenschaftler verkörpert den „Deutschen Sonderweg“ par excellence.
Daß er mitunter wie ein amorphes Alien aus einem sprachlichen Paralleluniversum klingt (Kostprobe aus seiner Doktorarbeit „Zur gattungstheoretischen Begründung literarischer Ästhetizität“, Hamburg 2000: „Die Ikonizität der visuellen Medien ist formal als die Analogizität von Räumen unter Zuhilfenahme des Zeitfaktors semiotisch analysierbar“), wirft ihn nicht aus der Karrierespur. Grüne Husarenritte beruhen, um es nochmals hervorzuheben, nicht auf Logik und klaren systematischen Analysen, sondern auf Angst, Schuldstolz und Weltbeglückungsphantasien − allesamt Befindlichkeiten, die sich dem rationalen Zugriff entziehen. Habecks verbale Nebelkerzen passen vortrefflich dazu.
Im Übrigen kann der Parteivorsitzende, wenn es darum geht, die schuldstolze, germanophobe Seele seiner Grünen zu streicheln, einen ungemütlich direkten Ton anschlagen: „Patriotismus, Vaterlandsliebe also, fand ich stets zum Kotzen. Ich wußte mit Deutschland nichts anzufangen und weiß es bis heute nicht“, blökte er 2010 in seiner Schrift „Patriotismus: ein linkes Plädoyer“.
Anhimmelnde Journalisten
Obendrein können sich die Grünen auf eine starke Verankerung im vorpolitischen Raum stützen, insbesondere auf die erdrückendende Riege linksliberaler Medien. Eine junge Stern-Reporterin himmelte Robert Habeck und seine Co-Vorsitzende Annalena Baerbock regelrecht an: „Es ist eine Kunst, so zu tanzen, daß ein Zauber in der Luft liegt. Man muß dafür kein Liebespaar sein, aber die Chemie muß stimmen. Es kommt darauf an, selbst im Lot zu bleiben und gleichzeitig den anderen nie ganz aus dem Blick zu verlieren. Eleganz und Beweglichkeit sind von Vorteil, außerdem das Talent, leicht zu wirken, auch wenn es kompliziert ist.“
Diese mediale Verankerung belegt auch der blauhaarige, aber in der Wolle grün gefärbte Youtuber Rezo, der als inoffizieller Parteisoldat die „Zerstörung der CDU“ übernahm. Mit schier unfaßbarem Erfolg − die wankelmütig reagierende, im derben Internet-Kulturkampf überforderte CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer sieht sich einem anhaltenden Wutsturm ausgesetzt.
Bei so viel grüner Zivilreligion mögen auch die großen Kirchen nicht abseits stehen. Beherzt kündigte der Journalist und gläubige Katholik Matthias Matussek dem Papst die Gefolgschaft auf: „Franziskus spricht von Auflösung von Nationen und Ethnien, als habe er sich in ein Redemanuskript von Claudia Roth verirrt.“ Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx, stößt gar in neue grüntheologische Dimensionen vor und identifiziert die Atomenergie als „Teufelszeug“.
Klima-Aktivisten geben den Takt vor
Aktuell wichtigster Akteur im vorpolitischen Raum ist die „Fridays for Future“-Bewegung, die sich zu den Grünen in etwa so verhält wie die Hippies des Flower-Power-Sommers 1967 zu den alsbald straff organisierten 68er-Kadern. Den Takt geben hier die Klima-Aktivisten und Grünen-Mitglieder Luisa Neubauer und Jakob Blasel („Grüne Jugend“) vor.
Kongeniale grüne „Vorfeldorganisation“ sind ferner die „Scientists for Future“, unter denen man sich keine nüchtern, unaufgeregt und ergebnisoffen forschenden Naturwissenschaftler vorstellen sollte. Den Typ des plakativ argumentierenden Wissenschaftsideologen könnte etwa die Meeresbiologin Antje Boetius verkörpern: „Die Zukunft ist kaputt, die Zeit ist um, wir haben jetzt noch zehn oder zwölf Jahre, um wirklich etwas zu ändern.“
Offenbar registriert Frau Boetius nicht einmal den fulminanten Widerspruch in ihrem Satz. Sollte die Zukunft wirklich „kaputt“ und die Zeit schon um sein, kann logischerweise nichts mehr geändert werden, weder jetzt noch innerhalb von zehn bis zwölf Jahren.
Tanz um das grüne Kalb
Ähnlich verhält es sich mit der Aussage „In jedem Steak stecken 70 Liter Erdöl“ (Johan Rockström, Co-Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung). Angesichts des mittleren Gewichts von Erdöl (Rohöl) müßte jedes Steak dann etwa 60 kg (plus X) wiegen − ganz zu schweigen von den gewaltigen wirtschaftlichen Verlusten, die jeder Discounter beim Verkauf eines solchen Steaks einfahren würde.
Diese Beispiele zeigen zugleich, daß der aktuelle Höhenrausch der Grünen rasch wieder verfliegen könnte. Die Fallhöhe für Habeck, Baerbock und Co. ist jedenfalls sehr groß. Statt ständig ums „grüne Kalb“ zu tanzen, sollte die parteipolitische Konkurrenz endlich den überfälligen Kulturkampf aufnehmen und alles dransetzen, den grünen Voodoo-Zauber mit rationalen Argumenten und den reichen Mitteln klarer Sprache zu entlarven.