Seit die AfD-Bundestagsfraktion gegen die Grenzöffnung geklagt und die Klageschrift im Internet veröffentlicht hat, beobachten wir in den Medien, angeführt vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ein Phänomen: Erstens, die Klage wird nicht erwähnt. Und zweitens: Es gibt kein Thema mehr außer der „Rechtslage“ im Hinblick auf die Grenzöffnung.
Und während Rechtsfragen, die im Mehrebenen-System zwischen einfachem Bundesrecht, Grundgesetz und Unionsrecht spielen, üblicherweise so verworren wie umstritten sind, ist endlich die Rechtslage ganz klar, und alle vernünftigen Menschen sind sich einig: Eine Grenzöffnung habe es ja gar nicht gegeben! Denn seit dem Schengen-Abkommen hätten ohnehin alle europäischen Binnengrenzen offengestanden. Und wo es also keine Grenzöffnung gab, da könne diese logischerweise auch nicht rechtswidrig gewesen sein. Stimmt das?
Mit dem Satz „Es gab keine Grenzöffnung“ ist es genauso wie mit dem ebenfalls beliebten Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“. Zunächst weiß niemand, was er bedeuten soll, das Verb „gehören“ hat bis zu vierzig unterschiedliche Bedeutungen, die alle in unterschiedlicher Zusammensetzung zwischen einem empirisch-faktischen und einem normativ-moralischen Element schillern.
Taschenspielertrick
Hat Merkel 2015 die Grenze geöffnet? https://t.co/FGHPc9NtGO #faktenfinder #Asylstreit #Grenzöffnung
— tagesschau (@tagesschau) 18. Juni 2018
In der politischen Rhetorik geht es oft darum, das Normative und das Faktische unter der Hand zu vermengen oder, wie bei einem Taschenspielertrick, heimlich gegeneinander auszutauschen. Ist der Satz „Es gab keine Grenzöffnung“ also empirisch oder juristisch gemeint?
Sollte der Satz äußere Fakten beschreiben, wäre er banal. In der Tat gab es auch vor dem Sommer 2015 etwa zwischen Deutschland und Österreich weder Mauern noch Zäune, deswegen konnten im Sommer 2015 auch keine Grenzbefestigungen überraschend entfernt oder Zugbrücken über den Inn eilig heruntergelassen werden. Da das ohnehin keiner behauptet, kann es auch keiner widerlegen.
Aber das Wort „Grenzöffnung“ ist selbstverständlich juristisch gemeint. Es bedeutet, ab Sommer 2015 wurden auf einmal Leute hineingelassen, die rein rechtlich niemals hätten eingelassen werden dürfen. Und dies ist selbstverständlich richtig; wer es leugnet, ist ein Dummkopf.
Menschenmassen unklarer Identität
Die Asylbewerber aus Ungarn, die nach Deutschland zu holen sich Angela Merkel offenbar am 4. September 2015 entschloß, hätten rein rechtlich nie nach Deutschland einreisen dürfen. Erstens, weil sie durchweg weder Pässe noch gültige Schengen-Visa besaßen.
Zweitens, weil Tatsachen die Annahme begründeten, daß eigentlich ein anderer EU-Mitgliedsstaat, nämlich Ungarn als Ersteinreiseland, für ihre Asylverfahren zuständig war.
Und drittens, weil sie als Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat, nämlich Österreich, in die Bundesrepublik einreisten. Hieran kann auch das ominöse Selbsteintrittsrecht der Dublin-III-Verordnung nichts ändern, denn dieses kann immer nur aufgrund eines aufwendigen diplomatischen Notifikationsverfahrens und in bezug auf Einzelfälle ausgeübt werden, bei denen Identität und Fluchtschicksal abschließend geklärt sind – und nie im Hinblick auf Menschenmassen unklarer Identität und Herkunft.
Bis heute keine Zurückweisungen
Auch vor dem Sommer 2015 durften Asylbewerber, die über andere Staaten in die EU gelangt waren, keine EU-Binnengrenzen überschreiten und nicht nach Deutschland einreisen. Die EU-Freizügigkeit galt und gilt insofern immer nur für Inhaber von Paß und Schengen-Visum, und die Dublin-III-Verordnung verbot es auch und verbietet es noch immer.
Nur: Vor dem 13. September 2015 war dies schwer zu überprüfen, da durch das Schengen-Regime „systematische Grenzkontrollen“ untersagt waren. Stichprobenartige Grenzkontrollen sowie verstärkte Polizeikontrollen im grenznahen Raum sollten allerdings trotzdem stattfinden und hätten im Erfolgsfall auch zur Zurückweisung führen müssen.
Seit dem 13. September 2015 sind aber Grenzkontrollen mit dem Plazet der EU-Kommission wieder eingeführt worden. Seit diesem Tag müßte an der Grenze jeder zurückgewiesen werden, der keinen Paß mit Schengen-Visum dabei hat oder bei dem Tatsachen die Annahme begründen, daß ein anderer EU-Mitgliedsstaat, nämlich der Ersteinreisestaat, für sein Asylverfahren zuständig ist, oder der aus einem sicheren Drittstaat nach Deutschland einreisen will. Es käme also keiner mehr rein.
Da dieser Umstand der Bundesregierung im Hinblick auf die Interessen und Wünsche anderer EU-Länder nicht hinnehmbar erscheint, hat sie die Bundespolizei – bis heute rein mündlich und ohne rechtliche Begründung – angewiesen, jeden einzulassen, der angibt, in Deutschland Asyl beantragen zu wollen. Und dies ist die bis heute wirksame, offensichtlich rechtswidrige Grenzöffnung.