Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert ist ein durchschnittlicher deutscher Politiker, der sich im Rahmen des durchschnittlichen Politik- und Geschichtsdiskurses bewegt. Anläßlich des 72. Jahrestags der Bombardierung seiner Stadt mit Zigtausenden Toten sagte er: „Dresden war keine unschuldige Stadt, das wurde wissenschaftlich ausgewertet.“ An anderer Stelle wurde er mit einer noch schärferen Variante zitiert: „Dresden war alles andere als eine unschuldige Stadt.“ Und: „Es gibt immer noch Versuche, die Geschichte umzudeuten und Dresden in einem Opfermythos dastehen zu lassen.“
Beflissen wiederholt er den Unsinn, der die letzten Zeitzeugen verletzen muß. Aus dem Mund ihres Stadtoberhaupts erfahren sie, keinen Grund zu haben, um sich über das Erlittene zu beklagen. Die kühle Verrechnung von Zerstörung und Massenmord verrät die Gesinnung des modernen Bürokraten. Gleichzeitig gibt sich Hilbert als autoritärer Charakter zu erkennen, der sich durch die Berufung auf die vermeintliche Autorität der Wissenschaft rückversichert.
Kennzeichen des totalitären Denkens
Es gibt keine Schuld eines ganzen Landes oder einer Stadt. Es gibt Schuldbeladene und Unschuldige, und sogar die Schuld beruht häufig auf tragischen Verstrickungen und ist keineswegs immer eindeutig. Was Hilbert unternimmt, ist eine Kollektivzuschreibung und -verurteilung, die ein Kennzeichen des totalitären Denkens ist. Wenn er im selben Zusammenhang mahnt, der „Totalitarismus von damals“ drohe wieder aufzuleben, und man müsse diese Tendenzen beobachten, dann weiß er offensichtlich nicht, wovon er redet. Es sei denn, er wollte die eigene Person als Beobachtungsobjekt herausstellen.
Leningrad und Moskau waren die Ausgangspunkte des Staatssozialismus und des stalinistischen Terrors, der mehr Tote zu verantworten hat als der Nationalsozialismus. Macht sie das zu schuldigen Städten? Rechtfertigte die Konzentration globaler Finanzheuschrecken in der New Yorker Wall Street etwa die Anschläge vom 11. September 2001? In Rom haben wüste Päpste regiert, wurden Religionskriege, Ketzerverfolgung und der Faschismus angezettelt.
Papst Pius XII. aber nannte sie die „Mutter aller Städte“ und mahnte die Alliierten, sie nicht zu bombardieren: „Wer seine Waffe gegen Rom erhebt, macht sich des Muttermordes schuldig, vor Gott und der gesamten zivilisierten Welt.“ Galt das nicht – ein wenig zumindest – auch für andere Städte, so auch für Dresden? Zumal seine Zerstörung das Kriegsende keineswegs beschleunigt hat?
Überführung in eine nationalmasochistische Metaphysik
Der Herrgott wollte die Stadt verschonen, wenn Lot ihm wenigstens zehn Gerechte darin nennen würde. Es gab in Dresden und anderswo viel, viel mehr, ganz abgesehen von den Kindern, die per se unschuldig waren und trotzdem in den Bombennächten verbrannten, erstickten, erschlagen wurden. Dresdens Oberbürgermeister überführt die „absichtlichen Terrorbombardements deutscher Bevölkerungszentren“ – wie sogar die britische Nachrichtenagentur AP 1945 schrieb –, die selbst bei den Alliierten nicht unumstritten waren, in eine nationalmasochistische Metaphysik.
Er kündigt – wie seine Vorgängerin, eine Christdemokratin – die natürliche Solidarität der Lebenden mit den Toten auf, welche die Voraussetzung schafft für die Solidarität unter den Lebenden. Denn nur wer sich sicher sein kann, daß sein Gegenüber ihn nicht posthum schänden wird, ist bereit, ihm sein Vertrauen zu schenken. Ohne Vertrauen aber ist sinnvolles soziales Handeln unmöglich, weil es von kurzfristiger Berechnung zerfressen wird.
Rückfall hinter die kulturellen Standards
In der „Antigone“ von Sophokles begräbt die Schwester den toten Bruder, obwohl das von König Kreon erlassene Gesetz es verbietet. Hegel hat gezeigt, daß Kreon kein Tyrann ist, sondern die Sittlichkeit des Staates verkörpert. Diese muß sich aber, um nicht zu verkommen, mit der vorstaatlichen, der Familiensolidarität der Antigone verbinden.
Der Durchschnittspolitiker Hilbert fällt hinter die kulturellen Standards zurück, welche die Antike, das Christentum und der deutsche Idealismus gesetzt haben. Mit einer totalitär angehauchten Sprache präsentiert er sich als dumpfer Staatsmensch, der die Toten nach politischem Kalkül bewirtschaftet und die Staatsräson exekutiert.
Die Politik beruft sich auf den Mißbrauch des Dresdner Gedenkens durch Neonazis. Den gibt es zweifellos. Doch erst die Entsolidarisierung des Staates mit den deutschen Opfern hat es ihnen ermöglicht, sich als ihre Hüter aufzuspielen. Was wiederum dem Staat die Vorlage dafür bietet, um den Resten des – abwertend so genannten – „Opfermythos“ zu Leibe zu rücken, mit scheinbarer Berechtigung und von „edlem“ antifaschistischen Zorn erfüllt.
Agitprop-Feier für Merkels Migrationsagenda
In diesem Jahr verschwinden das Bombardement und seine Opfer so gut wie ganz hinter der politischen Nutzanwendung des Jubiläums. Im Mittelpunkt der Gedenkveranstaltungen steht der Bürgerkrieg in Syrien, der weder von Berlin noch von Dresden aus veranlaßt wurde. Vor der Frauenkirche wird ein temporäres Monument eines syrischen Künstlers errichtet. Drei hochkant aufgestellte Linienbusse sollen, wie es heißt, eine Brücke von Dresden nach Aleppo schlagen, wo Bewohner einer Straße während der jahrelangen Kämpfe hinter solchen Fahrzeugen Schutz vor Heckenschützen suchten.
Auf dem Theaterplatz vor der Semperoper wird die Installation „Lampedusa 361“ mit imaginären Flüchtlingsgräbern präsentiert. Am 12. Februar geht der 8. Internationale Friedenspreis an den Bürgermeister des italienischen Ortes Riace, der für Migranten ein „Dorf des Willkommens“ geschaffen hat.
Das Gedenken wird zur Agitprop-Feier für Merkels Migrationsagenda. Angela schlägt Antigone! Wahnsinn wird Politik! Die Entsolidarisierung mit dem Land wird total.
JF 07/17