Es war ein denkwürdiger Tag in den Annalen des Moskauer Kreml. Gleich drei ausländische Spitzenpolitiker gaben sich am Donnerstag die Klinke in die Hand. Morgens Benjamin Netanjahu, der israelische Ministerpräsident. Dann der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel. Am Abend schließlich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan.
Das aktuelle Spiegel-Gespräch mit Konstantin Kossatschow, dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im russischen Föderationsrat, vermittelte ein völlig anderes Bild. Chefredakteur Klaus Brinkbäumer formulierte: „Nichts schadet Rußlands Ansehen in der Welt mehr als der Syrieneinsatz.“ Wohlgemerkt nicht als Frage, sondern als Festellung.
Postfaktische Weltsicht in den Redaktionen
In welcher Blase leben die Hamburger Redakteure? Postfaktisch ist der treffende Begriff. Von wegen Imageverlust. Ohne Rußland geht im Nahen und Mittleren Osten gar nichts. Die USA haben als dortige Ordnungsmacht auf ganzer Linie versagt. Billionen verheizte Dollars, Zehntausende Kriegstote. Resultat: Chaos und IS. Mit seiner jüngsten Entscheidung, die US-Truppenpräsenz in Syrien auf 900 Marines fast zu verdoppeln, verlängert der neue Präsident die Reihe seiner vier dilettierenden Vorgänger.
Um so erfrischender der Auftritt des neuen deutschen Außenministers in Moskau. Sigmar Gabriels verbales Sparring bei der Pressekonferenz mit Sergej Lawrow zeigte, daß es im Verhältnis zu Rußland zwischen Dialogverweigerung und Oberlehrertum durchaus dritte Wege gibt. Offensichtlich sieht Gabriel angesichts der verpufften Trump-Euphorie in Moskau die Chance, Europa von neuem ins Spiel – und ins Gespräch – zu bringen.
Doch um auf diesem Weg voranzuschreiten, gilt es in Berlin realpolitische Kröten zu schlucken. Ja, in Rußland werden die Menschen- und Bürgerrechte anders ausgelegt. Ja, in China auch. Auch im restlichen Asien. In Afrika. In Lateinamerika. In der gesamten nichtwestlichen Welt. Da können wir uns noch so lange sperren; irgendwann fährt die Eisenbahn drüber.
Ohne die Balten und Polen geht’s nicht
Daß Gabriel auf dem Weg nach Moskau brav in Warschau zwischengelandet ist, daß zudem weder die Krim noch die Sanktionen nennenswerte Themen seiner Gespräche waren – was soll’s? Der Karren sitzt so tief im Dreck, daß kein Rekurs auf abgenutzte, buchstäblich abgelutschte Debatten ihn vorwärtsbringt. Bilaterale deutsch-russische Vereinbarungen – das weiß der Außenminister genau – zerschellen an der multilateralen europäischen Realität. Wer den deutschen Führungsanspruch, wenn es um das Verhältnis zu Rußland geht, einlösen will, braucht die Balten und Polen im Boot.
Das muß nicht von Nachteil sein. Auch diese Länder wünschen sich eine in der Substanz tragfähige, nachhaltige Friedensarchitektur in ihrem Teil der Welt – dazu benötigen sie die Achse Berlin-Paris mindestens ebenso wie die Unterstützung aus Washington. Erst recht in Zeiten, wo Washington andere Prioritäten hat als Länder, von denen kein Durchschnittsamerikaner weiß, auf welchem Kontinent er sie suchen soll.
Wir dürfen annehmen, daß Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmaier, vielleicht sogar Angela Merkel und irgendwann sicher auch Martin Schulz wenigstens eine vage Vorstellung haben, wie man mit Rußland ins Benehmen kommen könnte. Doch da sind noch die bigotten Medien, die jeden realpolitischen Kompromiß als Sünde wider den heiligen demokratischen Geist verteufeln.
Moralischer Kleister statt Realität
Für sie gilt nur das hehre Wort, das haben sie acht Obama-Jahre lang unter Beweis gestellt. Der Friedensnobelpreisträger! Wie wurde nicht jede seiner Ansprachen belauscht, beleuchtet und beklatscht. Moralischer Kleister, so viel schöner als jede Realität. Endlich wird die Welt gut…geredet.
Es ist leider so: Während wir selbstverliebt um unsere Werte tanzen, machen Zar und Sultan Politik. China auch. Und der Iran. Wenn es so weitergeht, am Ende sogar Nordkorea. 2014 hat der Eisberg nur kurz seine Spitze gezeigt. Das Ergebnis: Putin hat die Krim, und die bleibt russisch.