Der Bundestagspräsident hat sich zu Wort gemeldet. In der FAZ. Es geht um Prinzipielles. Es geht um das Volk. Genauer: Es geht darum, daß es das Volk nicht gibt. Oder vielleicht doch. Jedenfalls muß es nach Norbert Lammert anderswo irgendwann einmal ein „wahrhaft souveränes Volk“ gegeben haben, im „Westen“ vermutlich, da, wo die Aufklärung unangefochten herrschte und das Volk als Bürgergemeinschaft „auf Grundlage eines gemeinsamen Bekenntnisses, etwa zu Werten und Normen“, bestand.
Präziser wird er nicht, muß er auch nicht, denn heute, angesichts von 20 Prozent Staatsangehörigen mit fremden Wurzeln und faktischer „Multikulturalität“ auf dem Territorium der Republik, kann vom Volk als kompakter Einheit keine Rede mehr sein.
Eine gewisse Skepsis gegenüber den eigenen Behauptungen ist nur bemerkbar, wenn Lammert erwähnt, daß die Mehrheit der Deutschen bei Befragung angibt, das Deutsche ergebe sich nicht einfach aus dem Paßbesitz und dieses deutsche Mehr sei durchaus bedroht und müsse deshalb geschützt werden. Aber es bleibt ein kurzes Zögern. Dann nimmt die Argumentation ihren Fortgang.
Wiederholung der aktuellen Gemeinplätze
Geboten wird weder Neues noch Originelles, sondern nur die Wiederholung der aktuellen Gemeinplätze, die das Denken der Politischen Klasse beherrschen: alle Gefahr geht vom Populismus aus; der ist in seiner Grundtendenz erstens dumm – er beharrt auf der Annahme, daß ein Volk existiert –, zweitens rassistisch – das Volk ist für die Populisten keine beliebige Ansammlung von Individuen – und drittens totalitär – die Populisten wollen den Führer per Akklamation an die Macht bringen; die Folgerung heißt, daß allein das Repräsentationsprinzip die Aufrechterhaltung von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit garantiert.
Die Souveränität des Volkes ist nur eine nützliche Fiktion, kam lediglich einmal in ferner Vergangenheit bei „Setzung“ der Verfassung zum Ausdruck. Hernach hat sich der Bürger auf gelegentliche Stimmabgabe zu beschränken, den Rand zu halten und die Spezialisten in Ruhe ihre Arbeit machen zu lassen. Ein harmonisches Zusammenspiel von Berufspolitikern und Technokraten, begleitet vom Grundrauschen, dem „kontinuierlichen Diskurs über den Mindestbestand an gemeinsamen Orientierungen und Überzeugungen, unter allen Bürgerinnen und Bürgern, den Einheimischen wie den Zuwanderern“, damit es etwas wird mit der „Selbstvergewisserung und Selbststabilisierung einer modernen Gemeinschaft“.
Es geht nicht um Argumente
Die Vorstellungen Lammerts sind das, was Emile Durkheim ein „wohldurchdachtes Delirium“ genannt hat. Es geht nicht um Argumente, sondern um rituelle Wiederholung dessen, was den Rang unbestreitbarer Wahrheit erlangt hat. Einwände, die es gegen die geltenden Dogmen gab, sind vergessen oder unter Tabu gestellt, die Ketzer unschädlich und vergessen gemacht.
Das heißt aber nicht, daß deren Sache erledigt wäre. Ganz im Gegenteil. Sie kehrt wieder, unter anderen Umständen, in anderem Gewand, zum Entsetzen der Hüter des Status quo. Deren Verweis darauf, daß doch bisher alles so schön funktioniert habe, verfängt nicht mehr. Es geht je länger je weniger um das Wie irgendwelcher Abläufe, es geht um das Warum des Ganzen.
Also um die Frage nach dem, was das Volk ist, was das Deutsche, was Deutschland. Man mag diese Frage für sinnlos halten. Für sinnlos, weil hier Größen ins Spiel gebracht werden, die gar nicht existieren. Dagegen wäre manches zu sagen. Hier nur soviel: Es müßte eigentlich zu denken geben, wie wenig sich die Menschheit, Europa, die universalen Werte als Ersatz eignen.
Aufstieg destruktiver Kräfte
Ihnen fehlen nicht nur – wie beim Begriff des Volkes – Nähe und Plausiblität, sie sind auch so abstrakt, daß die „Dekonstruktion“ ein leichtes wäre. Wenn die gerade nicht in Mode ist, will das wenig besagen. Die Unruhe der Etablierten spricht dafür, daß sie das ahnen, mehr noch, daß ihre Unruhe sich aus dem Wissen speist, die Menge an wohltuenden Täuschungen, die sie parat halten, könnte den letzten Rest an Überzeugungskraft verlieren.
Das hat nichts mit den Verirrungen des „Postfaktischen“ zu tun und nichts mit den Machenschaften ausländischer Potentaten und nichts damit, daß der altböse Feind in Gestalt des Populismus Auferstehung feiert. Hier kommen vielmehr destruktive Kräfte ins Spiel, deren Aufstieg dem Versagen der Politischen Klasse zu verdanken ist, all jenen, die nicht bereit waren, die richtigen Lehren aus der Geschichte zu ziehen.
Früher, als die FAZ noch andere Autoren hatte, schrieb der große Thomas Nipperdey mahnend, daß die Deutschen nach der Wiedervereinigung keine wichtigere Aufgabe hätten, als sich ihrer selbst zu vergewissern und als Volk in die Normalität des Nationalstaates zurückzukehren, ein Akt, der nichts anderes bedeute, als der „historischen und der moralischen, der politischen und praktischen Vernunft“ zu folgen.