Im Rahmen einer Institutseröffnung zu Wochenbeginn in Berlin diskutierte ein international besetztes Podium zum Thema: „Destruktive Konvergenz: Werden demokratische und autoritäre Systeme einander immer ähnlicher?“ Eine überraschende mutige Fragestellung für ein entschieden staatstragendes Institut – was vielleicht auch erklärt, weshalb die Diskussionsrunde es vorzog, über Populismus und die Krise der Demokratie zu parlieren.
Daß zumindest die deutsche Demokratie begonnen hat, autoritäre Züge zu entwickeln, dürfte den wenigsten entgangen sein. Das jüngste Beispiel ist eine geplante Änderung der Geschäftsordnung des Bundestags: Nicht mehr die Lebensjahre, sondern die parlamentarischen Dienstjahre sollen bestimmen, wer Alterspräsident wird. Ein Amt, dem nur in der konstituierenden Sitzung einer jeden Legislaturperiode Bedeutung zukommt und dessen einzige Aufgabe es ist, der Versammlung bis zur Wahl des Bundestagspräsidenten vorzustehen.
„Lex AfD“
Der vom jetzigen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) eingereichte und von der SPD sogleich unterstützte Änderungsvorschlag hat sich als „Lex AfD“ bereits einen Namen gemacht. Damit soll noch vor der Bundestagswahl verhindert werden, daß ein AfD-Abgeordneter – konkret geht es um den 77 Jahre alten niedersächsischen Kandidaten Wilhelm von Gottberg – das Amt anläßlich der Eröffnung des im September zu wählenden 19. Bundestags ausübt.
Dahinter steht die Angst vor „Weimarer Verhältnissen“, die regelmäßig dann beschworen werden, wenn es in der deutschen Demokratie etwas lauter wird. In der Tat haben Alterspräsidenten der Kommunisten und Nationalsozialisten mit ihren Brandreden bei den letzten Reichstagseröffnungen vor 1933 Tumult und Chaos ausgelöst.
Obendrein gehört der Kandidat Gottberg zu den Zeitgenossen, die sich am deutschen Anspruch auf den Holocaust als singulärstes Verbrechen der Menschheitsgeschichte reiben. Ähnliches hat er mehrfach öffentlich kundgetan. Nun geht die Angst um, Gottberg könnte im Fall seiner Wahl diese seine Meinung vor dem Hohen Hause kundtun und dem schönen Schein aus 70 Jahren Vergangenheitsbewältigung herbe Kratzer zufügen. Das darf nicht sein.
Fragwürdige Taschenspielertricks
Auf einen Taschenspielertrick wie den mit der Geschäftsordnung verfällt ein gewiefter Politiker im Nu. Und ebenso im Nu ist die Autorität der ungeschriebenen Norm, dessen, was gesagt und gehört und dessen, was nur gedacht werden darf, wiederhergestellt. Man glaube nur nicht, dort, wo die Zeitung von „autoritären Regimen“ schreibt, sei das wesentlich anders. In Rußland etwa achten die Mächtigen penibel auf die formale Übereinstimmung mit Recht und Gesetz. Par ordre de mufti geht gar nichts – alles sieht blitzblank wie Rechtsstaat aus. Schönen Schein können die Russen (und andere) auch.
Taschenspielertricks, wie man sie vor kurzem in Deutschland noch nicht erwartet hätte, begleiteten auch die kommunalen Verbote der Auftritte türkischer Politiker. „Zuwenig Parkplätze, zu großer Besucherandrang, zugestellte Zufahrtswege für Feuerwehr und Rettungsdienste“ – mit derart fadenscheinigen Argumenten durfte der bedauernswerte Bürgermeister von Gaggenau sich blamieren, nur weil im Kanzleramt keine(r) den Mumm hatte, den Wahlkampf türkischer Regierungsmitglieder in Deutschland auf der Basis geltenden deutschen Rechts – was problemlos möglich gewesen wäre – zu unterbinden.
In zwei Punkten unterscheiden sich echte Demokratien und autoritäre Regime: Demokratien lassen andere Meinungen zu und respektieren ihre eigenen Institutionen. Die „Lex AfD“ ist das Symbol für den Verstoß gegen beides. Bald 70 Jahre Geschäftsordnungstradition werden über den Haufen geworfen aus Angst, ein noch nicht einmal gewählter Hinterbänkler könnte am falschen Ort, zur falschen Zeit seine Meinung sagen. Kein Wunder, daß davon beim Volk nur hängenbleibt, wie rasch der Kaiser seine Kleider verliert. Bald ist er ganz nackt.