Der jüngste Brüsseler Flüchtlingsgipfel – der wievielte allein in diesem Jahr? – soll dem Vernehmen nach mit einem guten Kompromiß zu Ende gegangen sein; erfolglos also. Ergebnislos aber nicht, denn der Graben, der die Europäer voneinander trennt, ist vor den Augen der Welt noch nie so tief und gründlich aufgerissen worden wie diesmal.
Im Einvernehmen mit den Österreichern, Tschechen, Ungarn und Slowaken, wollte EU-Ratspräsident Donald Tusk, ein Pole, die Balkanroute, Haupteinfallstor für Flüchtlinge aus aller Welt, endgültig schließen. Die Absicht hatte sich noch nicht herumgesprochen, da fuhr ihm eine Deutsche mit der Behauptung über den Mund, es ginge jetzt nicht darum, „daß irgend etwas geschlossen wird“.
Merkel macht einfach weiter
Angela Merkel läßt sich durch nichts und niemanden mehr beirren. Ihre Kontingentlösung stößt auf Widerstand; aber sie bleibt dabei. Das Mißtrauen unter den Völkern wächst und treibt die Menschen auseinander; aber Frau Merkel macht weiter. Als wäre nichts geschehen, bekennt sie sich zu einer Solidarität, von der nicht viel zu sehen ist.
Hartnäckige und eigenwillige Regierungschefs, Männer wie Konrad Adenauer oder Willy Brandt, hat die deutsche Kanzlerdemokratie immer wieder hervorgebracht; eine Kanzlerin wie Angela Merkel, die ruiniert, was zu bewahren oder verteidigen sie vorgibt, was des Bewahrens und der Verteidigung ja auch wert gewesen wäre, aber noch nie.
Europas Gemeinschaft zerfällt
Die Union zerfällt: Im Norden kapseln sich die Schweden ab; die Dänen machen nicht mehr mit; die Finnen halten auf Distanz; Norwegen hat noch nie dazugehört. Im Osten sieht es ähnlich aus: Die Ungarn bauen einen Zaun; Österreich zieht Obergrenzen ein, Tschechen und Slowaken geben sich souverän und drohen, die Gemeinschaft zu verlassen; die Polen gehen ihren eigenen Weg, zeigen Europa die kalte Schulter und sollen zur Strafe dafür unter Aufsicht gestellt werden: so schafft man sich Freunde!
Belgien löst sich auf, Frankreich schließt seine Grenzen, England besinnt sich auf seine Insellage, Spanien zeigt sich empört über die neue deutsche Großmannssucht, den Italienern dient die Flüchtlingskrise als bequemer Vorwand, sich immer höher zu verschulden, und Griechenland – Griechenland wird gerettet, zum dritten oder vierten Mal.
Dort hat schon längst nicht mehr die Regierung das Sagen, sondern die Troika: ein Triumvirat, das sich dem Wohl der Banken verpflichtet fühlt, nicht dem des Volkes. So etwas nennt man dann ein Friedensprojekt.
Flüchtlingsflut als Waffe
Zum Ausgleich dafür eröffnet die Union den Türken eine Beitrittsperspektive. Nachdem Präsident Erdogan, der neue Sultan, die Flüchtlingsflut als Waffe entdeckt hatte, mit der sich jede Menge Geld erpressen läßt, blieb der Union auch nicht viel anderes übrig. Schon längst geht es dabei nicht nur um die bekannten drei Milliarden, sondern ums Doppelte, um sechs, wenn nicht gar sieben Milliarden Euro Flüchtlingshilfe.
Dies Pfand wird Erdogan so bald nicht aus der Hand geben, warum sollte er auch? Wenn ihm die Europäer versprechen, die Syrer, die es in die Türkei geschafft haben, bei sich aufzunehmen, bleibt er am langen Hebel sitzen. Den wird er nutzen, um der EU weiteres Geld abzupressen.
Erdogan mißachtet die Demokratie
Von den Folgen der gründlich verfahrenen Außenpolitik, auf die sich die Europäer unter dem Druck der Flüchtlingskrise eingelassen haben, dürfte die immer engere Verflechtung mit türkischen Interessen die verhängisvollste sein. Griechenland zu retten, war teuer, bedeutete aber keinen Verrat am europäischen Verfassungskatalog; eben den verlangt jedoch der Kotau vor den Türken.
Erdogan mißachtet die Spielregeln der Demokratie, unterwirft sich die Gerichte, schaltet die Presse gleich und führt gewissermaßen nebenher noch einen blutigen Krieg gegen die Kurden. Verglichen mit ihm erscheint ein Mann wie Putin fast schon als jener lupenreine Demokrat, den Gerhard Schröder in ihm sehen wollte.
Politik der offenen Grenzen gescheitert
Europas Vorzeigeprojekt, die Politik der offenen Grenzen, ist gescheitert, keineswegs überraschend. Warum es Grenzen gibt und geben muß, hat der jüngst verstorbene André Glucksmann einmal so erklärt: „Das demokratische Recht als das Recht aller Bürger, ihr Land zu verlassen; es ist aber nicht das Recht aller Bürger dieser Welt, in dieses oder jenes Land einzudringen und sich dort dauerhaft niederzulassen. Eine Demokratie, die sich dazu herbeiließe, jeden, der es wünscht, bei sich aufzunehmen, würde diese Regelung nicht überleben.“
Wer das für übertrieben hielt, sollte durch die blutigen Anschläge von Paris eines Schlechteren belehrt worden sein. Tatsächlich geht es jetzt ums Ganze, um die Verteidigung der demokratischen Substanz, um das Bewahren der immer wieder angemahnten Werte.
Schaffen wir das?
Schaffen wir das? Mit diesem Europa wohl kaum. Denn Europa ist müde geworden, und nirgends müder als in Deutschland, wo man in Angela Merkels humanitär bemänteltem Imperialismus ein Zeichen von Zuwendung und Hilfsbereitschaft erkennen wollte.
Dank dieser „Kanzlerin der Herzen“ ist Deutschland in eine wenig komfortable Lage geraten. Wir können wählen zwischen der Bündnistreue zu einem Land, das aller Welt den American way of life verordnen will; zwischen einem autoritären Machthaber wie Erdogan, der sich einen Spaß daraus macht, die Europäer zu erpressen; und belastbaren Beziehungen zu einem Land, von dem wir, anders als von den Vereinigten Staaten von Amerika, durch keinen Ozean getrennt sind. Man muß Putin aber nicht mögen, um einzuräumen, daß es im Interesse Deutschlands liegt, mit Rußland im Gespräch zu bleiben.
JF 11/16