Nichts stört derzeit den festen Glauben an „immer mehr Europa“, wie er zumal in Brüssel und Berlin gepredigt wird, mehr als Brexit und Recep Tayyip Erdoğan. Über die Armenien-Resolution des Deutschen Bundestags läßt sich streiten – sicher ist, daß der zutiefst beleidigte türkische Präsident es bei der Abberufung seines Botschafters und Drohungen gegen türkischstämmige Abgeordnete nicht belassen wird.
Schon die zögerliche Umsetzung der Visabefreiung für türkische Staatsbürger hat in Ankara Zweifel an der Flüchtlingsvereinbarung mit der EU genährt. Wenn es Erdoğan in seinem Zorn gefällt, dann sind morgen erneut Hunderttausende Syrer, Iraker und Afghanen auf dem Weg nach Griechenland und Bulgarien. Die Migrationskrise, die nur mit Mühe und Not – vor allem dank vieler hundert Kilometer südosteuropäischen Stacheldrahts – halbwegs unter Kontrolle ist, wäre über Nacht wieder da.
Als ob das der Not nicht genug wäre, entscheiden die Briten am 23. Juni, ob sie die Europäische Union verlassen wollen. Noch gestatten die Umfragen keine eindeutige Prognose. Um so mehr hofft und betet man in Kreisen der Berliner Regierungsparteien und in den meisten deutschen Redaktionen, das Schicksal möge uns beide Ungemache ersparen: bitte kein Brexit und bitte keine Neuauflage der Sommer- und Herbstmonate 2015, als täglich Tausende Einlaß in die EU begehrten.
Kein „Weiter so“
Aber wäre das wirklich der „best case“? Das „Weiter so“ um (fast) jeden Preis ist seit Jahren das Markenzeichen der Europa-Verfechter. Es ist auch der Grund, weshalb manche ehemaligen DDR-Bürger sich an die späten achtziger Jahre erinnert fühlen: Die EU in ihrem Lauf / hält weder Ochs noch Esel auf. Dabei sprengen die inneren Widersprüche schon jetzt alle Möglichkeiten realer Politik. Die Osteuropäer und Balten sind zu keinem Verteilungsschlüssel für Migranten bereit, der mehr als nur kosmetisch ist. Und selbst im Fall der Brexit-Ablehnung wird die Londoner Regierung weiterhin auf ihren nationalen Interessen beharren.
Der Konflikt um die weitere Ausgestaltung der EU verschwindet nicht von selbst, zumal quer durch die Gemeinschaft der Widerstand gegen die seit Maastricht und Lissabon herrschende Linie wächst. Deren Befürworter setzen ihrerseits alles daran, die Gegner ihres Kurses als Rechts- oder Linkspopulisten abzutun, als rückständig, ewiggestrig oder noch viel Schlimmeres. Die Politiker des „Weiter so“ betreiben derweil die Institutionalisierung des europäischen Superstaats. Selbst die großen Krisen – Euro, Einwanderung, Austrittsbestrebungen – bieten sich als Mittel zum Zweck. Die Devise: Fakten schaffen, solange es noch möglich ist.
Europäischer „Showdown“
Dabei ist die Zeit längst reif für den europäischen „Showdown“. Beim nächsten Migrantensturm muß der Kontinent sich entscheiden: „Refugees welcome“ oder Festung Europa. Vor dieser Diskussion fürchtet man sich vor allem in Deutschland, wo viele den Traum hegen, nie wieder hart und böse sein zu müssen.
Und eine europäische Einigung wird es nicht geben – die Länder im Osten sind froh, nach den kommunistischen Jahrzehnten sich endlich selbst gefunden zu haben; das reicht ihnen an Willkommenskultur. Noch spielt die Türkei den Büttel und schützt (gegen viel und gutes Geld) die europäischen Grenzen. Unsere Politiker sonnen sich derweil in ihren Lebenslügen – in unser aller Lebenslügen. Doch irgendwann schnippt der türkische Präsident mit dem Finger, und der Schlamassel fällt uns auf die Füße, mit Karacho. Wäre es da nicht ehrlicher, der Wahrheit heute ins Gesicht zu sehen und nicht erst übermorgen?
Fortschritt heißt nicht immer nur stur geradeaus
Mit dem Brexit ist es nicht viel anders. Wenn er ausfällt, wird in Berlin Champagner fließen oder wenigstens Rieslingsekt. Gewonnen ist damit gar nichts. Die Wahl einer Marine Le Pen zur französischen Präsidentin, ein rechter Regierungschef in einem anderen Staat, ein Staatsbankrott in einem der südeuropäischen Armenhäuser – die Wirkung der inneren Widersprüche, ewige Treibriemen der Geschichte, wäre nur aufgeschoben, nichts wäre aufgehoben.
Wenn es hingegen zum Brexit kommt, ist buchstäblich Zeit gewonnen. Der dann einzig verbliebenen EU-Großmacht Deutschland wird es nicht mehr gelingen, die Gemeinschaft auf noch mehr „Weiter so“ einzuschwören. Dann setzt vielleicht endlich die Debatte ein, wie Europa in zehn, zwanzig Jahren aussehen soll. Eine EU der zwei Geschwindigkeiten? Ein Rückbau zur EWG der Vaterländer? Eine Mischung aus beidem? Ein dritter Weg? Fortschritt heißt beileibe nicht immer nur stur geradeaus.