Da sind sie wieder, die Berufsempörten. Es dauerte keine fünf Minuten, von dem Moment an, als Erika Steinbach ihren Tweet zum Tod von Helmut Schmidt abgesetzt hatte, bis die Moralpolizei auf Twitter voller Inbrunst auf die CDU-Bundestagsabgeordnete einschlug. Politiker, Journalisten, Blogger und die übliche Hetzmeute warfen Steinbach wahlweise Pietätlosigkeit (Omid Nouripour, Grüne), Schamlosigkeit (Thorsten Schäfer-Gümbel, SPD), Respektlosigkeit oder Geschmacklosigkeit (Manuela Schwesig, SPD) vor.
Sie solle sich schämen, sei ekelhaft und müsse einen Arzt konsultieren, schrieben andere. Der Bild-Kolumnist und SPD-Politiker Nico Lumma ätzte, Steinbach habe wohl wieder einmal ihre Pillen nicht genommen.
Doch was hatte Steinbach verbrochen? Die CDU-Politikerin hatte anläßlich Schmidts Tod den Altkanzler mit den Worten zitiert: „Wir können nicht mehr Ausländer verdauen, das gibt Mord und Totschlag.“ Damit, so ihre Kritiker, hatte sie es gewagt, das Ableben Schmidts für politische Stimmungsmache zu mißbrauchen und gegen Flüchtlinge zu hetzen.
Solche Rituale gehören zur Politik
Daß zahlreiche Politiker und Medien Zitate Schmidts anläßlich seines Todes veröffentlichten, störte dabei offenbar niemanden. Schließlich waren es keine Zitate, in denen der Altkanzler sich kritisch mit der Einwanderung und Multikulti auseinandergesetzt hatte. Auch finden sich bei Twitter unzählige Einträge, in denen A-, B- und C-Prominente, Politiker – vom Minister über den Hinterbänkler bis zum Gemeinderat – sowie Journalisten und solche, die gern welche wären, ihre Weisheiten über Schmidt zum Besten gaben.
FDP-Chef Christian Lindner ließ es sich beispielsweise nicht nehmen, Schmidt mit einem Spruch zu würdigen, der stark an den Inhalt eines chinesischen Glückskekses erinnerte. Und auch Grünen-Chefin Simone Peter war der Ansicht, der Welt mitteilen zu müssen, daß ihre Partei nun um einen „großen Politiker, Intellektuellen und streitbaren Kanzler“ trauere – so als ob Schmidt Mitglied der Grünen gewesen wäre.
Helmut #Schmidt wurde durch Krisen groß, die er klein machte. Heute wird Politik oft klein, weil sie Krisen groß macht. CL
— Christian Lindner (@c_lindner) 10. November 2015
Helmut Schmidt war beim Volk beliebt, und es gehört zur Politik, daß sich die Funktionäre von Parteien gerne in die Nähe derjenigen begeben oder rücken, die sich der Gunst des Volkes erfreuen. Das ist so bei der Fußballweltmeisterschaft, wenn die Kanzlerin medienwirksam den Bundestrainer herzt und das ist so, wenn eine Berühmtheit abtritt und die vielen großen und kleinen Lichter noch ein letztes Mal in deren Glanz miterstrahlen wollen.
Die Empörung ist bestenfalls scheinheilig
Plötzlich überbieten sie sich in ihrer Trauer über den Tod der Person, die man so schwerlich vermissen werde. Niemand habe den Verstorbenen und seine Weisheit so geschätzt, wie man selbst. Kein anderer werde den Rat des väterlichen Freundes so vermissen. Helmut Schmidt sei ein Patriot gewesen, rühmte SPD-Chef Sigmar Gabriel salbungsvoll. Dabei ist es doch gerade seine Partei, die Patriotismus per se verdächtig findet und andere, die sich als Patrioten bezeichnen, gerne wahlweise als Pack oder Schande beschimpft.
Daher ist auch Erika Steinbachs Tweet nicht verwerflicher als die Äußerungen ihrer Politiker-Kollegen und die Empörung darüber bestenfalls scheinheilig. Wenn überhaupt muß sich Steinbach fragen lassen, warum sie als CDU-Abgeordnete eine Politik mitträgt, die dem von ihr angeführten Zitat Schmidts vollkommen entgegensteht.