Grenzenlosigkeit kennt keine Regeln und Begrenzungen. Sie sind jedoch wichtig, um planen und lenken zu können, um Risiken überschaubar zu halten. Die derzeitige Praxis der Flüchtlingspolitik trägt Züge einer Entgrenzung – mit entsprechenden Folgen. Merkels „Wir schaffen das“ kann angesichts einer völlig unvorbereiteten Verwaltung, überforderten Kommunen und einem aufopfernden, aber zeitlich instabilen bürgerschaftlichen Engagement nur als fehlleitende Durchhalteparole gelten.
Bundespräsident Gauck traf das Dilemma auf den Punkt: „Unsere Aufnahmekapazität ist begrenzt, auch wenn noch nicht ausgehandelt ist, wo diese Grenzen liegen.“ Nimmt man dies als Aufforderung zu einem gesellschaftlichen Diskurs, so stößt man schnell an Tabuschranken. Wie die öffentliche Debatte zur Einschränkung des Asylrechts 1993 mit dem Ergebnis des heutigen Grundgesetzartikels 16a jedoch gezeigt hat, bietet die Aussetzung von Denkverboten Chancen, um Handlungsoptionen auszuloten. Bei dieser Diskussion sollte immer im Blick bleiben, daß es um juristische „Verteidigungstechniken“ geht, die die eigentlichen Ursachen des Zuwanderungsdrucks in keiner Weise lösen werden.
Nationale Möglichkeiten eng begrenzt
Um es deutlich zu sagen: Aufgrund der Vorrangstellung des EU-Rechts sind die nationalen Möglichkeiten relativ eng begrenzt. Das Asylrecht wird zentral durch Artikel 18 der Grundrechte-Charta der Europäischen Union bestimmt, der auf die Genfer Flüchtlingskonvention abstellt. Über die Kompetenzermächtigung des Lissabon-Vertrags kann die EU „eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl“ entwickeln. Bislang bestehen nur Ansätze eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS).
Weitere Regelungen wie die Errichtung von Transitzonen an der EU-Außengrenze, strengere Abschieberegeln sowie verbindliche Verteilungsschlüssel sind dringend notwendig. Wie die Diskussion um die Quotenschlüssel aber deutlich gemacht hat, ist die Thematik besonders souveränitätssensibel. Zwar kann der EU-Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen.
Nicht einmal „Dublin III“ wird durchgesetzt
Um die Akzeptanz und Beachtung sicherzustellen, wäre jedoch Einstimmigkeit anzustreben. Nicht einmal die Anwendung des Durchleitungsverbots von Flüchtlingen und deren Registrierung gemäß „Dublin III“ wird an den EU-Außengrenzen durchgesetzt – und von der Bundesregierung durch deren Aufnahme positiv sanktioniert.
Damit steht die Politik einer nationalen Einschränkung des Asylrechts vor einem Dilemma: Einerseits scheinen die 28 Mitgliedstaaten bei unterschiedlichen Interessenlagen zu keinen zukunftsfähigen verbindlichen Absprachen fähig. Andererseits unterliegt eine formal durchaus mögliche Einschränkung des Grundgesetzartikels 16a dem Vorranggebot des EU-Rechts – will heißen, unterhalb der Regeln der Genfer Konvention ist kaum etwas machbar.
Scheitern vor dem Europäischen Gerichtshof
So könnte eine Änderung des Grundgesetzes beispielsweise in der Einfügung eines neuen Absatzes bestehen: „Das Recht auf Asyl kann unter besonderen innerstaatlichen Notlagen wie kapazitativer oder finanzieller Überforderungen sowie einer Gefährdung des gesellschaftlichen Friedens durch Mehrheitsentscheid des Bundestages befristet außer Kraft gesetzt werden.“ Diese Einschränkung dürfte jedoch spätestens an einer Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof scheitern.
Welche Möglichkeiten bleiben? In einfachen Ausführungsgesetzen könnte das Asylrecht in einschränkender Weise ausgestaltet werden. Statt eines Richterspruchs würde der Bundestag eine gewisse Steuerung der Flüchtlingsströme vornehmen. Die zum 1. November geplanten Gesetze entsprechen diesem Vorgehen. Verfahrenszeiten und -standards (Ausweitung der Flughafenregelung) sowie Abschieberegelungen (insbesondere die Einschränkung von Ausnahmen) könnten weiter verschärft werden.
Möglichkeit des „Staatsnotstands“
Bereits 1992 hatte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages eine Ausarbeitung erstellt, die auf einen möglichen „Staatsnotstand“ verweist. Dieses gängige, wenn auch nicht unumstrittene Rechtskonstrukt geht von einem Gesetzesvorbehalt des Staates aus, der angesichts einer Notlage seine Selbstauflösung befürchten muß. Konkret geht es um Gefahren für die Sicherheit des Staates und die Sicherheit der Bevölkerung.
Ebenfalls wird in den Ausführungen eine begrenzte Aufnahmekapazität infolge einer nicht mehr zu bewältigenden Zahl von Asylbewerbern erwähnt. Dieser Fall würde bei fehlenden Unterkünften oder einer Überforderung des Gemeinwesens (politisch, bevölkerungspolitisch, wirtschaftlich) eintreten können. Die Problematik dürfte in der konkreten Feststellung dieses „Staatsnotstands“ liegen.
Eine europäische Lösung wäre nötig
Interessant ist, daß der Lissabon-Vertrag auf europäischer Ebene genau diese Situation berücksichtigt: „Befinden sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassen.“ Allerdings wäre der betroffene Staat vom Votum der anderen EU-Staaten abhängig und könnte nicht selbst aktiv werden.
Zusammengefaßt: Notwendig wäre eine europäische Lösung, die aber in weiter Ferne steht. Aufgrund der EU-Vorgaben bliebe eine Grundgesetzänderung ohne weitreichende Wirkung – die Selbstblocke ist perfekt. Es bleiben einfache Gesetze, mit deren Hilfe versucht werden kann, die Krisenlage für Deutschland (kurzfristig) durch konkretisierte Asyleinschränkungen zu lösen. Dabei besteht weiterhin die kaum abwendbare Gefahr einer schweren Notlage, wie sie durch den „Staatsnotstand“ umschrieben wird. Die keineswegs nur finanziell gedachten Kosten dieser Krisenreparatur dürften immens sein.
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Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ordnungsökonomik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
JF 43/15