Der Mann weiß, was er will. Recep Tayyip Erdoğan will einen Teil der Macht, in Deutschland und in Europa. Er will die Türkei zur europäischen Großmacht erheben, die durch ihr schieres demographisches Gewicht die EU dominiert. Der Weg dorthin führt über deren politisch schwächstes Glied: Deutschland. In Köln hat Erdoğan diesen Anspruch so unverhohlen formuliert, daß sein Auftritt als charismatischer Führer der Auslandstürken als historische Wendemarke gelten kann: Die Zeit war gekommen, um offen die Souveränitätsfrage zu stellen und die Teilung der Macht in Deutschland zu fordern.
Erdoğan hat seinen „Deutschländern“ einen Auftrag erteilt: Sie sollten sich ihrer Bedeutung als Einflußfaktor bewußt werden. Damit sie es bleiben, sollen sie sich weigern, sich an die Noch-Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren, sondern vielmehr in ihren Parallelgesellschaften verharren und diese noch weiter ausbauen; durch muttersprachliche Schulen beispielsweise. Weniger blumig ausgedrückt: Bildet Brückenköpfe, betätigt euch als Fünfte Kolonne.
Deutschlands politische Klasse wirkt dabei, als wisse sie nicht, wie ihr geschieht. Der lichte Moment der Angela Merkel, in dem sie Erdoğan entgegenhielt, auch die Kanzlerin der hier lebenden Türken zu sein, warf vor der Kulisse von Köln ein grelles Schlaglicht auf das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit.
Das Spiel mit dem Ausnahmezustand
Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Nach der Brandkatastrophe hatte Erdoğan eine Machtprobe dafür abgeliefert, daß er durch gezieltes Aufpeitschen der Emotionen diesen Zustand zumindest herbeiführen und durch persönliches staatsmännisches Auftreten auch wieder abblasen kann. Die Drohung steht weiter im Raum. Wer also ist Kanzler der Türken in Deutschland?
Merkels Satz war kaum unreflektiert verhallt, da formierten sich auch schon die Wegducker und Wegschwätzer. Verzweifelt bemühten sich etwa Unions-Außenpolitiker Ruprecht Polenz und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, in Erdoğans Kölner Rede den Silberstreif zu finden: Er habe doch auch von „Integration“ gesprochen und seine Landsleute sogar aufgefordert, Deutsch zu lernen. Stimmen wie die des bayerischen Europaministers Söder, der vor der bevorstehenden Gründung einer türkischen „Staatspartei“ in Deutschland und dem Fernziel eines „türkischen Eu-ropa“ warnte, blieben auch in den eigenen Reihen isoliert.
Dabei hat Erdoğan in Köln klar gesagt, was er unter „Integration“ versteht: das Ummünzen von demographischer Potenz in politische Teilhabe. Nehmt von all den schönen Angeboten, was nützlich ist, signalisiert er seinen Landsleuten, im übrigen aber kümmert euch nicht um Integrationsminister und Sozialarbeiter.
Delegitimierte Integrationsindustrie
Bündiger kann man die Integrationsindustrie nicht delegitimieren. Dennoch klammert sich die deutsche politische Klasse, die Erdoğans interessegeleitetem Integra-tionsbegriff wenig mehr als multikulturelle Illusionen entgegensetzen kann, eisern an ihrer gescheiterten sozialpädagogischen Bürokratie fest. Zu gut vernetzt ist sie schließlich, zu viele leben schon davon.
Grünen-Chefin Claudia Roth, deren Antinationalismus sich nur auf das eigene Volk bezieht, geht noch weiter und erklärt jede Kritik an Erdoğan für „spalterisch“ und tabu; Baden-Württembergs SPD-Chefin Ute Vogt will ihm durch die Einführung von Türkisch als zweiter Fremdsprache an den Schulen entgegenkommen. So verhalten sich Kollaborateure, die den kommenden starken Mann ahnen und sich ihm vorauseilend andienen.
Gewiß: Die innere Verbundenheit von Einwanderern mit ihrer alten Heimat ist nicht notwendig staatsgefährdend. Jedenfalls wenn es eine integrierende Staatsidee gibt, die mit Flagge und Hymne unterschiedliche ethnische Identitäten zu überwölben vermag. Eine selbstbewußte Nation mit intaktem Patriotismus kann integrieren, ohne ihre Souveränität aufzugeben.
Assimilation als Zielperspektive
Assimilation ist dazu kein Widerspruch, sondern natürliche Folge und Zielperspektive. Mit sicherem Machtinstinkt hat Erdoğan das hier begründete deutsche Souveränitätsdefizit erkannt. Deshalb erlaubt er sich, was kein westlicher Staatsmann in einem anderen Land wagen würde: die eigenen ausgewanderten Landsleute gegen das Staatsvolk des Gastlandes zu mobilisieren und auszuspielen.
Zudem weiß er die Zeit auf seiner Seite. Seit der frühere Amtsinhaber Demirel vor drei Jahrzehnten Kanzler Schmidt ins Gesicht sagte: „Wir produzieren die Kinder, und ihr werdet sie aufnehmen“, kennt man in Ankara die Schwächen in der deutschen Verteidigung gegen schleichende Landnahme. Und jede neue, nicht-assimilierte Generation bringt die Deutschland-Türken dem Status einer nationalen Minderheit in einem Vielvölkerstaat näher.
Deutschland steht an einer Wegmarke. Gelingt es, in der Integrationspolitik von Sozialpädagogik auf Staatsräson umzuschalten, die Assimilation der Einwanderer durchzusetzen und denen, die dazu nicht bereit sind, die Türe zu weisen? Gelingt es, den EU-Beitritt der Türkei abzuwenden? Die Antworten müssen jetzt gegeben werden, selbst wenn dafür ein Ausnahmezustand durchgestanden werden muß. Denn sie entscheiden darüber, ob Deutschland am Ende dieses Jahrhunderts noch der souveräne Staat der Deutschen sein kann – oder ob es zur „Deutschtürkei“ wird.