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Lage der Christen: Machtwechsel in Syrien: „Es geht in Richtung Scharia“

Lage der Christen: Machtwechsel in Syrien: „Es geht in Richtung Scharia“

Lage der Christen: Machtwechsel in Syrien: „Es geht in Richtung Scharia“

Nach dem Sturz von Baschar al-Assad hat in Syrien der ehemalige Al-Qaida-Kämpfer al-Dschaulani die Macht an sich gerissen. Im Interview sprechen der Erzbischof von Aleppo, Botros Kasis, und der assyrische Oppositionspolitiker Gabriel Moushe Gawrie über die aktuelle Lage und die Zukunft ihres Landes.
Nach dem Sturz von Baschar al-Assad hat in Syrien der ehemalige Al-Qaida-Kämpfer al-Dschaulani die Macht an sich gerissen. Im Interview sprechen der Erzbischof von Aleppo, Botros Kasis, und der assyrische Oppositionspolitiker Gabriel Moushe Gawrie über die aktuelle Lage und die Zukunft ihres Landes.
Botros Kasis, syrisch-orthodoxer Erzbischof von Aleppo (links), und der Oppositionspolitiker Gabriel Moushe Gawrie: „Eine demokratische Regierung in Syrien – ist das realistisch?“ Fotos: Privat / picture alliance / Anadolu | Hasan Belal
Lage der Christen
 

Machtwechsel in Syrien: „Es geht in Richtung Scharia“

Was wird aus Syrien? Können die Flüchtlinge bald zurück? Im Interview mit der JUNGEN FREIHEIT ist Oppositionsführer Gabriel Gawrie voller Hoffnung. Dagegen warnt Botros Kasis, Erzbischof von Aleppo, vor Islamisierung und Christenverfolgung.
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Erzbischof Kasis, ist der neue Machthaber, Abu Mohammed al-Dschaulani, das Schlimmste, was Syrien passieren konnte? 

Mar Botros Kasis: Die ganze Welt weiß, daß al-Dschaulani ein Islamist ist, der früher für Al-Qaida gekämpft und schwere Verbrechen verübt hat. Das hat er selbst eingeräumt. Nun gibt er sich als Staatsmann und verspricht Schutz für alle Minderheiten. Auf den ersten Blick macht das Hoffnung. Doch wir Christen wissen: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen, wie es beim Evangelisten Matthäus heißt. Und das, was seit der Machtübernahme passiert, bereitet uns große Sorgen. 

Inwiefern?

Kasis: Es gibt etliche Attacken auf Christen, auf Kirchen und auf christliche Symbole. Auf den griechisch-orthodoxen Patriarch von Hama wurde sogar geschossen! Allerdings ist unklar, wer dahintersteckt. Sind es syrische Kämpfer der HTS? …

Der „Hai’ at Tahrir asch-Scham“ („Komitee zur Befreiung der Levante“), also des Bündnisses verschiedener Milizen, an dessen Spitze al-Dschaulani steht.

Kasis: … Oder sind es Ausländer, die als Milizionäre  für die HTS kämpfen? Fest steht, daß es landesweit Proteste gegen diese Angriffe gab – wohlgemerkt nicht nur Christen haben protestiert, sondern auch Moslems.

Der neue syrische Machthaber Abu Mohammed al-Dschaulani: „Hoffnung – auf den ersten Blick.“ Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Giuseppe Lam

„Ich habe im Gefängnis unvorstellbare Dinge erlebt“

Herr Gawrie, teilen Sie diese Befürchtungen?

Gabriel Moushe Gawrie: Gerade wegen dieser gemeinsamen Proteste von Christen und Moslems glaube ich nicht, daß es al-Dschaulani und seinen Leuten gelingen wird, eine islamistische Regierung zu etablieren und ähnlich diktatorisch wie Baschar al-Assad zu herrschen.

Unter dem Sie jahrelang im Gefängnis saßen.

Gawrie: Ich habe dort Dinge erlebt, die kann man sich als Mensch nicht vorstellen. Es ist immer noch extrem schmerzhaft, daran zu denken, deshalb will ich bitte nicht im Detail erzählen, was mir dort angetan wurde. Dabei habe ich „nur“ drei Jahre gesessen, dort aber Menschen getroffen, die vierzig Jahre oder länger eingesperrt waren. Selbst mein Bruder saß sieben Monate hinter Gittern, nur weil er mich einmal in Haft besucht hat. Unter Assad waren eine halbe Million Syrer eingesperrt und unzählige wurden ermordet.

All dieses Unrecht haben die Syrer einfach satt. Sie wollen Freiheit. Vergessen Sie nicht, daß Syrien ein vielfältiges Land ist mit zahlreichen Völkern und Religionen. Die Menschen werden ein diktatorisches Regime wie die 24 Jahre unter Baschar und die dreißig Jahre zuvor unter seinem Vater Hafiz al-Assad nicht erneut zulassen.

Kasis: Trotzdem beginnt schon jetzt eine Islamisierung, die uns wirklich sehr, sehr große Sorgen bereitet. Unter den Assads waren die Christen zwar nicht gleichberechtigt, doch sie hatten ihre Freiheiten und wurden in Ruhe gelassen. Der Unterschied zwischen damals und heute ist leider bereits enorm. Hier in Aleppo werden die Frauen zum Beispiel gezwungen, sich zu verschleiern. Sie dürfen ohne ihre Männer nicht mehr auf die Straße gehen. Im Bus müssen sie hinten sitzen.

So wurde etwa ein Mann meiner Gemeinde von einem HTS-Kämpfer gemaßregelt, der nicht dulden wollte, daß seine Tochter während der Fahrt vorne bei ihrem Vater saß. Hinzu kommt, daß die neue Regierung die Schulbücher ersetzt. Die alten waren schon von der Ideologie des Assad-Regimes geprägt, aber in den neuen geht es eindeutig in Richtung Scharia. Zusätzlich wird der islamische Märtyrerbegriff gelehrt, also daß man für Allah sterben soll. Überdies werden Christen und Juden als unrein bezeichnet.

Al-Dschaulani hat angekündigt, in den kommenden drei Jahren eine neue Verfassung auszuarbeiten. Bis zu vier Jahre soll es dauern, bis die ersten Wahlen stattfinden. Was halten Sie davon? 

Gawrie: Das ist eine sehr lange Zeit – eine zu lange Zeit. Meine Partei, für die ich in der Kommission sitze, die die neue Verfassung ausarbeitet, fordert, diese innerhalb von sechs Monaten fertigzustellen und alle gesellschaftlichen Gruppen darin zu berücksichtigen. Sowie spätestens in 18 Monaten die Wahl des Volksrats, also des syrischen Parlaments, abzuhalten. Diese Forderungen entsprechen übrigens denen, die der UN-Sicherheitsrat 2015 in seiner Syrien-Resolution 2254 beschlossen hat. 

„Weitere Syrer, vor allem Christen, werden das Land verlassen“

Kasis: Am 31. Dezember haben sich al-Dschaulani und Vertreter der christlichen Gemeinschaften getroffen. Dabei wurde er gefragt, warum das alles so lange dauern soll. Er hat es damit begründet, daß viele Syrer geflohen seien und ihre Pässe verloren hätten. Nun brauche es viel Zeit, neue auszustellen, damit sie mitwählen könnten. Meiner Meinung nach steckt allerdings auch folgendes Kalkül dahinter: Die wirtschaftliche Situation und die Sicherheitslage sind katastrophal. Al-Dschaulani will wohl zunächst die Probleme lösen, um dann bei den Wahlen möglichst viel Zuspruch zu bekommen.

Syrer in Duisburg feiern den Sturz der Assad-Regierung: „Nun brauchen wir sie, um unser Land wieder aufzubauen.“ Foto: picture alliance / Jochen Tack | Jochen Tack

Wenn die Wirtschafts- und Sicherheitslage so katastrophal ist, was soll dann aus den vielen syrischen Flüchtlingen werden, zum Beispiel in Deutschland? 

Gawrie: Zuerst möchte ich mich bei den Deutschen bedanken! Dafür, daß sie so viele syrische Flüchtlinge aufgenommen haben. Diese Flüchtlinge haben in Deutschland viel gelernt. Nun brauchen wir sie, um unser Land wieder aufzubauen. Allerdings ist es jetzt viel zu früh, um über ihre Rückkehr zu sprechen. Die Infrastruktur ist zerstört, vielerorts gibt es keinen Strom. Wir müssen dafür sorgen, die Situation hier zu verbessern und stabile Verhältnisse schaffen. Vorher können wir den Flüchtlingen nicht zumuten, wieder zurückzukehren.

Kasis: Ich wünsche mir, daß die Menschen irgendwann wieder zurückkehren. Aber ich fürchte, das Gegenteil wird eintreten und weitere Syrer werden das Land verlassen. Das gilt besonders für die Christen. Vor Beginn des Krieges 2011 lebten 2,2 Millionen Christen in Syrien, was circa zehn Prozent der Bevölkerung entsprach. Heute sind es nur noch 300.000, vielleicht weniger. Dennoch versuche ich, zuversichtlich zu bleiben und diese Zuversicht auch auf meine Gemeinde zu übertragen. Aber die Lage ist wirklich sehr, sehr dramatisch. So beträgt etwa der Durchschnittslohn inzwischen nur noch dreißig Dollar im Monat.

Mit diesem Geld muß ein Vater seine Familie ernähren – das ist jedoch unmöglich. Folge ist, daß viele Familien ihre Kinder statt zur Schule zum Arbeiten schicken und es immer häufiger zu Raubüberfällen kommt. Seit Assads Sturz ist der Sicherheitsapparat komplett zusammengebrochen. Es gibt weder ein funktionstüchtiges Militär noch eine funktionstüchtige Polizei. Wenn man morgens aus dem Haus geht, weiß man nicht, ob man abends wiederkommt. Nachts traut sich sowieso niemand mehr auf die Straße.

Darüber hinaus hat Israel nach dem Ende des Assad-Regimes im Süden einen Teil unseres Territoriums besetzt, und die Drusen, eine religiöse Minderheit, haben dort eine Art Autonomie ausgerufen. Die neue Regierung ist damit gescheitert, dieses Gebiet unter Kontrolle zu bringen. Weiterhin halten sich noch immer circa 25.000 Kämpfer des Islamischen Staats im Land auf, die weiterhin eine große Gefahr darstellen. Und im Norden kämpfen von der Türkei unterstützte Milizen gegen die Kurden. Es gibt also keine Sicherheit in Syrien, nirgendwo!

Im Norden leben auch viele Christen.

Kasis: Das ist ein Grund, warum ich hoffe, daß die Türkei dort nicht einmarschiert. Aktuell wird das Gebiet weitgehend von der Kurdenmiliz YPG kontrolliert, von der die Türken fordern, die Waffen niederzulegen. Gleichzeitig gibt es Verhandlungen zwischen den Kurden und den neuen Machthabern um al-Dschaulani, um den Konflikt zu lösen. Wie es dort weitergeht, ist vollkommen unklar.

Und wie geht der Konflikt im Süden mit Israel weiter?

Kasis: Die Israelis haben zahlreiche syrische Militärstützpunkte bombardiert. Das Gebiet, das sie besetzt haben, ist strategisch sehr wertvoll. Das werden sie nicht so leicht aufgeben. Und wir wissen ja, daß Israel 1967 schon die Golanhöhen erobert hat, die zu Syrien gehören.

Was die meisten Deutschen nicht wissen: Syrien ist eine kulturelle Wiege des Christentums und war bis zur Eroberung durch den Islam über Jahrhunderte ein christliches Land. Noch um 1900 betrug der Anteil der Christen 25 Prozent. Doch wie von Ihnen bereits erwähnt, waren es hundert Jahre später, zu Kriegsbeginn 2011, nur noch zehn Prozent. Was ist in dieser Zeit passiert?

Kasis: Für diesen Exodus gibt es drei Gründe: Erstens der Völkermord an den syrischen Christen zwischen 1915 und 1917 durch die Osmanen. Zweitens die folgenden Zwangsislamisierungen. Und drittens Auswanderung wegen Unterdrückung und aus wirtschaftlicher Not. 

„Unter Sanktionen leiden nur die Menschen, nicht die Diktatoren“

Werden die Christen in Syrien – und im Nahen Osten – allgemein vom Westen ausreichend unterstützt?

Kasis: Im Gegenteil, die Einmischung der USA und der Europäer – denken Sie beispielsweise an das Sykes-Picot-Abkommen von 1916, als die Briten und Franzosen den Nahen Osten unter sich aufteilten – ist ein wichtiger Grund für die Unterdrückung und Flucht vieler Christen. Die Europäer haben bewußt dafür gesorgt, daß die Christen aus dem Nahen Osten fliehen, besonders die gebildeten, zum Beispiel Ärzte. Diesen Verlust spüren wir ganz massiv. 

Was erwarten Sie jetzt speziell von Deutschland?

Kasis: Die Deutschen sollten dafür sorgen, daß die Wirtschaftssanktionen gegen Syrien beendet werden. Denn unter diesen leiden nur die Menschen, gegen Diktatoren aber bringen sie überhaupt nichts. Außerdem sollte Deutschland in Dialog mit der neuen Regierung treten. Außenministerin Annalena Baerbock hat sich erst unlängst in Damaskus mit al-Dschaulani getroffen. Die deutschen Politiker sollten darauf hinarbeiten, daß er kein islamisches Regime etabliert und wir stattdessen eine demokratische und liberale Regierung bekommen. Ferner würden wir uns als Christen wünschen, daß deutsche Entscheidungsträger mehr Kontakt zu den christlichen Gemeinschaften in Syrien suchen. 

Gawrie: Wir hoffen, daß Deutschland auf der Umsetzung der erwähnten UN-Resolution 2254 beharrt. Zudem benötigen wir weitere humanitäre Unterstützung. Von großer Bedeutung ist auch, daß wir – die assyrischen Christen – als Minderheit anerkannt werden. Der Name „Syrien“ leitet sich nicht ohne Grund vom Namen unseres Volkes ab: Wir sind die Ureinwohner Syriens. Unsere Rechte müssen in der neuen Verfassung verankert werden. Wir wünschen uns, daß sich Deutschland für uns einsetzt.

Anfang Januar traf sich Außenministerin Annalena Baerbock mit dem neuen Machthaber al-Dschaulani: „Kein islamistisches Regime zulassen.“ Foto: picture alliance/dpa | Jörg Blank

„Ich befürchte, daß das Militär die Macht an sich reißen wird“

Erzbischof Kasis, Ihr Vorgänger Gregorius Hanna Ibrahim und sein griechisch-orthodoxer Amtsbruder Mor Boulose Yazigi wurden 2013 von Unbekannten entführt. Gibt es nun nach dem Machtwechsel ein Lebenszeichen von ihnen?

Kasis: Nein. Seit ihrer Entführung weiß niemand, was mit ihnen passiert ist. Es gab Gerüchte, sie seien von der Assad-Regierung ins Gefängnis geworfen worden. Daher hatten wir gehofft, sie unter den Freigelassenen zu finden. Anderen Gerüchten zufolge sind sie in einem Gefängnis in der Türkei eingesperrt. 

Herr Gawrie,Erzbischof Kasis, wenn sich die Dinge so entwickeln, wie Sie es sich wünschen, wie sieht die Lage in Syrien dann am Ende des Jahres 2025 aus? Und wie sieht sie aus, sollten Ihre schlimmsten Befürchtungen wahr werden?

Gawrie: Nun, ich glaube, es wird den Islamisten nicht gelingen, einen diktatorischen Staat zu errichten. Vielmehr werden die unterschiedlichen Völker und Religionen in Syrien gleichberechtigt zusammenleben, und wir werden ein Vorbild für unsere Nachbarländer sein. Wir Assyrer werden offiziell als indigenes Volk anerkannt sein, und die Verfassung wird uns unsere Rechte garantieren. Das alles ist nicht nur meine Hoffnung, sondern auch meine Prognose. Daran arbeiten wir, und darauf konzentriere ich mich! 

Kasis: Das beste Szenario ist, wie Herr Gawrie sagt, eine demokratische Regierung, ein Syrien, in dem alle gleichberechtigt zusammenleben. Das ist die Hoffnung von uns Christen, die Hoffnung aller Minderheiten in Syrien. Aber ist das auch realistisch? Ich fürchte, daß das Schlimmste eintreten wird und wir eine islamistische Regierung bekommen – zumindest am Anfang. Denn ich glaube nicht, daß diese Regierung dauerhaft Erfolg hat, sondern befürchte, daß vielmehr irgendwann das Militär die Macht an sich reißt. Und dann wird die Lage für die Menschen in Syrien vielleicht noch  viel schlimmer sein als unter den Islamisten.

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Mar Botros Kasis, Jahrgang 1975, ist seit 2015 kommissarisch, seit 2022 offiziell Erzbischof der syrisch-orthodoxen Kirche in Aleppo.

Gabriel Moushe Gawrie, Jahrgang 1962, ist Vorsitzender der Partei Assyrische Demokratische Organisation (ADO), die sich für die assyrische Minderheit einsetzt.

Aus der JF-Ausgabe 05/25.

Botros Kasis, syrisch-orthodoxer Erzbischof von Aleppo (links), und der Oppositionspolitiker Gabriel Moushe Gawrie: „Eine demokratische Regierung in Syrien – ist das realistisch?“ Fotos: Privat / picture alliance / Anadolu | Hasan Belal
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