Sehr geehrter Herr Fernand Kartheiser, Sie sind EU-Abgeordneter aus Luxemburg. Da komme ich gleich auf das Thema Chancengleichheit zwischen den „kleinen“ und „großen“ Staaten in der EU zu sprechen. Wie ist es darum bestellt?
Fernand Kartheiser: Von vornherein gebe ich gerne zu, daß die EU durchaus versucht, zumindest in wirtschaftlichen Fragen mehr Chancengleichheit zu schaffen. Strukturfonds, regionale Projekte und viele andere Initiativen zielen darauf ab, wenigstens in puncto Lebensstandard die EU-Staaten näher zueinanderzuführen. Bei aller, oft berechtigter Kritik an der Europäischen Union sollte man ihr dies zugute halten. Doch es bleiben immer auch Trennungen und Unterschiede, die tiefer gehen, als solche, oft großzügigen, Umverteilungsmechanismen es vermuten lassen.
Wo gibt es doch Trennungen und Unterschiede?
Kartheiser: Die lobenswerte Idee der Chancengleichheit verlangt nach klaren und gerechten Kriterien. Rechtstreue und Gleichheit vor dem Gesetz sollten selbstverständlich sein. Doch trotz allem behaupteten gutem Willen bleibt die EU eine Meisterin der Doppelmoral. Tiefverwurzelte Ungleichheiten zeichnen ihre Politik seit jeher aus. Was die größeren Staaten dürfen, dürfen die kleineren noch lange nicht. Die Gründungsmitglieder beanspruchen eine moralische Führungsrolle, den neu beigetretene Staaten gefälligst anzuerkennen haben. Reichere Staaten sind als wichtiger anzusehen als ärmere. Institutionelle Regeln werden nur solange befolgt, wie sie wahlweise den größeren Staaten oder der gerade vorherrschenden Ideologie nützen.
Können Sie Beispiele dafür benennen?
Kartheiser: Die Annullierung einer demokratischen Wahl in Rumänien ist ein bemerkenswertes Beispiel. Kaum jemand zweifelt daran, daß diese Entscheidung auch unter Druck größerer europäischer Staaten oder vielleicht auch der EU-Institutionen selbst getroffen wurde. In einem größeren, reicheren Mitgliedstaat hätte es eine solche Einmischung von außen wohl nicht gegeben.
Doch in Rumänien waren nur die Brutalität und die Begründung der Einmischung neu, nicht aber das Prinzip des Hintergehens demokratischer Entscheidungen durch die EU. Mitgliedstaaten wie Dänemark oder Irland wissen sehr wohl, was geschehen kann, wenn bei einem Referendum die in den Augen der EU „falsche“ demokratische Entscheidung getroffen wird. Nach ein paar kosmetischen Änderungen an den zur Abstimmung vorliegenden Texten werden die Referenden eben solange wiederholt, bis das erwünschte Resultat vorliegt.
Die EU tut das, was sie anderen vorwirft
Sie kritisieren die Einflußnahme der großen europäischen Staaten und der EU. Gibt es noch weitere Fälle?
Kartheiser: Die EU, welche nicht müde wird, sich jegliche Einmischung von außen zu verbitten, betreibt selbst solche Einmischungen in großem Stil. Beitrittsinteressierte Länder wie Georgien oder Armenien werden vor jeder Wahl zum beliebten Reiseziel europäischer Politiker. Sollte das Wahlresultat nicht den Brüsseler Erwartungen entsprechen, so muß das nach EU-Lesart zweifelsohne aufgrund russischer Manipulationen geschehen sein.
In Georgien geht die EU so weit, die gewählte Regierung nicht anzuerkennen. Anstatt solchen fragilen Staaten zu helfen und sie zu stabilisieren, macht die EU das Gegenteil: Sie destabilisiert und instrumentalisiert solche Staaten, um ihren eigenen Einfluß zu steigern. Was sie anderen vorwirft, wie etwa die Bildung einer Einflußsphäre, betreibt sie selbst ohne jegliche Rücksicht auf die oft komplizierte Interessenlage der betroffenen Staaten oder Regionen.
Welche Rolle spielen demokratische Prinzipien hier überhaupt noch?
Kartheiser: Demokratische Prinzipien spielen keine Rolle, wenn sie den Interessen der EU zuwiderlaufen. Bei der kürzlich durchgeführten Präsidentenwahl in Moldawien wurde es den in Rußland wohnenden Moldawiern praktisch unmöglich gemacht, ihre Stimme abzugeben. Die EU störte das nicht, weil ihre Kandidatin die Wahl auf diese Art und Weise gewinnen konnte. Vielleicht sollte man auch noch an die Präsidentenwahl in der Ukraine von 2004 erinnern. Auch hier wurde unter starkem westlichen Druck eine Stichwahl annulliert.
In einem nirgends vorgesehenen dritten Wahlgang wurde dann der prowestliche Kandidat als gewählt erklärt. Nun ist es wohl wahr, daß in vielen Ländern außerhalb der Europäischen Union die Wahlen nicht immer westlichen Qualitätsstandards entsprechen. Auch in Georgien gab es viel berechtigte Kritik an den Wahlen. Aber es besteht gemeinhin ein breiter Interpretationsspielraum, und der wird dann auch konsequent so genutzt, daß er Pro-EU oder Pro-Nato-Kandidaten stärkt.
Gibt es auch andere Politikbereiche auf EU-Ebene, wo es hakt?
Kartheiser: Kreative Doppelmoral gibt es auch im Bereich der Beitrittskriterien. An und für sich gelten für alle Beitrittskandidaten die Kopenhagener Kriterien: ein funktionierender Rechtsstaat, eine soziale Marktwirtschaft sowie die Umsetzung des Acquis communautaire, also der bisherigen Gesetzgebung der Europäischen Union, in die nationale Rechtsordnung. Neuerdings kommen aber noch politische Kriterien hinzu, die man in den Verträgen vergeblich sucht. Als informelle, aber hoch angesehene Beitrittsbeschleuniger gelten nunmehr Pflicht und Kür auf der russophoben Leistungsskala.
Die in dieser Hinsicht vorbildliche Ukraine darf mit schnellen Entscheidungen rechnen, ein Land wie Serbien wird systematisch ausgebremst. Daß bei den Kopenhagener Kriterien Serbien ungleich besser abschneidet als die Ukraine, ist dabei irrelevant. Serbien hat eben in den Augen der EU die falschen Freunde. Um es klar auszudrücken: Es handelt sich dabei um eine Form der politischen Erpressung: Wer EU-Mitglied werden will, muß sich auch die gerade dominierende EU-Politik vorschreiben lassen. Somit entfernt sich die Europäische Union von einer Koordinierung nationaler Politikvorstellungen und bewegt sich hin zu einer aufgezwungenen Gemeinsamkeit. Wer Europa kennt, versteht, daß das auf Dauer nicht gutgehen kann.
„Normandie-Format“ hat schwerwiegende Fehler begangen
Sie sprechen von einem Recht-des-Stärkeren-Prinzips. Wie sieht das aus?
Kartheiser: Ein dritter Bereich, in dem Doppelmoral systematisch angewendet wird, sind die institutionellen Fragen. Hier gilt, ganz unvertragsgemäß, das Recht des Stärkeren. Die Ratspräsidentschaft darf zum Beispiel getrost übergangen werden, wenn sie nicht von einem der drei größeren EU-Staaten ausgeübt wird. Derzeit hat Polen die Ratspräsidentschaft inne. Logischerweise fährt deshalb der französische Präsident – und nicht etwa der polnische Ministerpräsident – nach Washington, wenn es gerade etwas Wichtiges zu besprechen gibt. Tatsache ist aber, daß der Ausschluß anderer europäischer Staaten vom Entscheidungsprozeß auch gewichtige Nachteile für diese zeitigen kann.
Deutschland und Frankreich haben so etwa im außerinstitutionellen „Normandie-Format“ die Minsker Verträge mit Rußland und der Ukraine verhandelt und es anschließend bewußt versäumt, auf der Umsetzung dieser Abkommen zu bestehen. Den Preis für dieses Versäumnis bezahlen heute aber alle, nicht nur Deutschland und Frankreich. Sollten dann doch nicht lieber alle an Verhandlungen und Entscheidungen mitwirken dürfen? Noch ein weiteres Beispiel sollte man nicht unerwähnt lassen.
Man könnte es das Prinzip der moralischen Selektivität nennen. Ist in einem bestimmten Mitgliedstaat ein „Pro-Europäer“ an der Macht, so darf man getrost bei eventuellen rechtsstaatlichen Problemen beide Augen fest zudrück. Sollte aber ein eher EU-kritischer Geist an den Hebeln der Macht sitzen, so wird der Respekt der Rechtsstaatlichkeit zur Waffe gegen diesen unliebsamen Regierungschef. Ein Vergleich zwischen den derzeitigen Zuständen in Polen und Ungarn dürfte dieses Prinzip deutlich genug belegen.
Fernand Kartheiser ist EU-Abgeordneter der Luxemburger Alternativen Demokratischen Reformpartei (ADR), Vorstandsmitglied der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer sowie Mitglied im EU-Ausschuß für Industrie, Forschung und Energie.