Herr Dr. Schmiele am 17. Juni 1990 hätten Sie Deutschland beinahe im Alleingang wiedervereinigt.
Joachim Schmiele: Nicht ich alleine, sondern unsere Fraktion der Deutschen Sozialen Union.
Wie das?
Schmiele: Durch unseren Antrag vom 17. Juni in der Volkskammer der DDR: Diese möge gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes den Beitritt zur Bundesrepublik erklären.
Obwohl er in die Ausschüsse verwiesen wurde, sorgte der Antrag damals für Aufsehen.
Schmiele: Genau das wollten wir. Zwar war uns klar, daß der Antrag keine Chance hatte, aber er verlieh dem Einigungsprozeß neuen Schwung!
Die Feinde der Einheit gewannen an Gewicht
Warum war das nötig?
Schmiele: Weil sich nach unserer Einschätzung die Wiedervereinigung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschleppen drohte. Denn die Feinde der deutschen Einheit gewannen zusehends an Gewicht.
Wer waren diese Feinde?
Schmiele: An erster Stelle die ehemaligen DDR-Machteliten, die nur einen besseren Sozialismus und ihr Parteivermögen retten wollten – und die heute als Die Linke firmieren, zuvor PDS, vorher SED. Und um das einmal klarzustellen: Die Linke ist also nicht die „SED-Nachfolgepartei“, sondern juristisch korrekt immer noch die SED!
Wer noch?
Schmiele: Außerdem die bundesdeutschen Linksgrünen – Parole: Nie wieder Deutschland! –, die von einem „dritten Weg“, sprich ebenfalls von einem besseren Sozialismus faselten. Weiterhin Maggie Thatcher und Frankreichs Präsident François Mitterrand. Vor allem aber die gefühlt zunehmende Gewöhnung einiger Mandatsträger an ihre Position, die zwar keine Feinde waren, aber Verzögerer. Denn damit meine ich, daß es sich einige wenige in der Volkskammer und der neuen Regierung bequem gemacht hatten und – typisch menschlich – nicht so sehr interessiert daran waren, diese Bequemlichkeit durch eine rasche Auflösung der DDR aufzugeben.
Der Plan war gewagt
Wie aber kam es nun zu Ihrem Antrag vom 17. Juni?
Schmiele: Er hat eine Vorgeschichte, die mit der am 18. März 1990 gewählten, ersten demokratischen DDR-Volkskammer beginnt. Denn als die dort konsequentesten Verfechter der deutschen Einheit haben wir, die DSU-Fraktion, versucht, für die konstituierende Sitzung der Volkskammer den Punkt „Abstimmung zum sofortigen Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 Grundgesetz“ auf die Tagesordnung zu setzen.

Bitte? Ein Überraschungsbeitritt zur Bundesrepublik gleich bei der allerersten Sitzung der Volkskammer?
Schmiele: Genau, das war der Plan. Dann hätte – wären die Mehrheiten vorhanden gewesen – die Wiedervereinigung bereits am 5. April 1990 stattgefunden. Leider aber konnten wir uns nicht durchsetzen. Doch weil wir alle für die Einheit glühten – keine Fraktion tat das so wie wir –, wurde die Idee in den nächsten Fraktionssitzungen zum Dauerthema. Und es entstand der Plan, zu versuchen, den Antrag am 17. Juni – der damals in der Bundesrepublik noch der offizielle „Tag der deutschen Einheit“ war – erneut auf die Tagesordnung zu bringen und diesmal mit Erfolg.
Wieso hat das, anders als im April, nun geklappt?
Schmiele: Weil wir diesmal durch unseren Fraktionschef Hansjoachim Walther den Fraktionschef der CDU, Günther Krause, den späteren Bundesminister, für einer Mitwirkung gewinnen konnten.
Der Zeitpunkt war irrelevant für spätere Fehler
So gelangte Ihr Vorstoß zwar auf die Tagesordnung, konnte sich aber dennoch nicht durchsetzen. Trotzdem erzielte er damals erhebliche öffentliche Wirkung.
Schmiele: Ja, das politische und mediale Aufmerken war groß. Und der Einigungsprozeß beschleunigte sich.
Sie wollen sagen, der tatsächliche Termin, der 3. Oktober 1990, sei folglich ein Ergebnis Ihres Vorstoßes?
Schmiele: Nein, nicht die Wahl dieses Tages war unser Verdienst, wohl aber daß überhaupt ein konkreter Termin festgelegt wurde. Und zwar indem wir damit drohten, künftig bei jeder Sitzung eine namentliche Abstimmung über den Beitritt nach Artikel 23 zu beantragen, wenn die Volkskammer nicht endlich einen Termin beschließt. Namentlich deshalb, damit sich jeder Abgeordnete vor seinen Wählern für ein Nein hätte verantworten müssen. So kam es dann am 23. August zur Entscheidung – und zur Wahl des 3. Oktobers, der der Wunschtermin der CDU war. Wir hätten gerne einen früheren gehabt, haben diesem dann aber nach dem Motto „besser als nichts“ zugestimmt.
Aber war es wirklich klug, so auf die Tube zu drücken? Manche führen die Probleme der „inneren Einheit“ auf eine überstürzte Wiedervereinigung zurück.
Schmiele: Ein typisches Argument linker Gegner der Einheit, lassen Sie sich da bloß nicht täuschen! Natürlich hätte man einiges anders oder besser machen können, aber mit dem Zeitpunkt der Wiedervereinigung hat das kaum etwas zu tun. Und was wäre herausgekommen, hätte man sich mehr Zeit gelassen, wie die Linke es wollte? Die wünschte eine neue Verfassung, was Jahre gedauert hätte – eine Verzögerungstaktik, in der Hoffnung, die Einheit langfristig zu verhindern! Aber nicht mit unserer DSU!
Lernen, zwischen den Zeilen zu lesen
Was ist eigentlich die Deutsche Soziale Union?
Schmiele: Der leider gescheiterte Versuch, in den neuen Ländern eine Partei zu schaffen, die in etwa der bis dahin erfolgreichsten bundesdeutschen Partei, der CSU, entspricht – und zwar ohne den Geruch einer Blockpartei. Die Idee, eine Art CSU zu gründen, kam mir – und wie ich später erfuhr auch anderen in der DDR – Anfang 1989.
Bitte? Bis zum Oktober 1989 war die DDR doch noch eine totalitäre Diktatur, in der die Führung mit dem Gedanken spielte, die Proteste blutig niederzuschlagen.
Schmiele: Stimmt, aber in einer Diktatur lernt man, zwischen den Zeilen zu lesen, und man verstand instinktiv, was Anfang 1989 der geänderte Tonfall in der regimetreuen Presse bedeutete. Für jemanden aus dem Westen mag es nicht ersichtlich gewesen sein, wir aber spürten, wie verunsichert die Machthaber auch durch Gorbatschows Politik bereits waren. Die Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Lesens ist den Mitteldeutschen auch heute noch eigen. Was unter anderem die unterschiedlichen Reaktionen in Ost und West auf die aktuelle Politik erklärt.
Drohte beim Versuch, eine Partei zu gründen, nicht Besuch von der Stasi, vielleicht sogar die Verhaftung?
Schmiele: Ja, natürlich hatte man die Stasi immer im Hinterkopf, aber ich hoffte, daß es dazu angesichts der Lage nicht mehr kommen würde. Zudem habe ich nur absolut vertrauenswürdige Menschen angesprochen. Mein Ziel war, circa dreißig Leute zusammenzubringen und dann an die Öffentlichkeit zu gehen. Doch leider bekam ich zu viele Absagen.
Die Union wollte keine neue Konkurrentin
Warum die CSU?
Schmiele: Zum einen, weil ich die Entwicklung Bayerns in Funk und Fernsehen sowie auch persönlich beobachten konnte. Denn dank der von Franz Josef Strauß mit der DDR ausgehandelten Vereinbarungen durfte ich meine Verwandten in München besuchen. Dort erlebte ich, was Freiheit bedeutet: Wie die Menschen offen miteinander diskutierten. Der eine schwang kommunistische, der andere CSU-Reden, und keiner nahm daran Anstoß – kein Besuch der Polizei, keine gesellschaftliche Skandalisierung, keine beruflichen Konsequenzen.
Also ganz anders als mitunter heute.
Schmiele: Ja, und unter Umständen tranken die Redner sogar anschließend zusammen ein Bier. Hinzu kam, daß ich bestaunen konnte, was Freiheit wirtschaftlich heißt: das Freisetzen ökonomischer Kräfte mit Wohlstand für fast jeden – Bayern war nach dem Krieg vom Agrar- zum modernen Industriestaat geworden. Doch vermutlich trug zum Scheitern meiner CSU-Gründung auch bei, daß etliche derer, die ich ansprach, all das gar nicht mit der Partei CSU in Verbindung brachten, sondern beeinflußt waren, von der medialen Darstellung des Franz Josef Strauß und Bayerns als reaktionär, zurückgeblieben, wenn nicht gar faschistoid.
Da sieht man die Macht der Medien! Als dann die Mauer fiel, sprach ich mit dem damaligen Berliner CDU-Chef Eberhard Diepgen. Während des Gesprächs bot er mir an, in die Ost-CDU zu kommen. Als ich das wegen der sogenannten Blockflöten dort ablehnte, machte er mich darauf aufmerksam, daß gerade eine CSU-ähnliche Partei in Gründung sei. Die dann am 20. Januar 1990 in Leipzig als Deutsche Soziale Union das Licht der Welt erblickte.
Warum hat der Versuch, in den mitteldeutschen Ländern eine Art CSU zu etablieren, trotz deren Unterstützung und eines Anfangserfolgs von 6,3 Prozent bei der ersten freien Volkskammerwahl nicht geklappt?
Schmiele: Klar war, daß das Volkskammerwahlergebnis bei der folgenden gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990 nicht reichen würde, um die Fünfprozenthürde zu nehmen. Mein Vorschlag war daher, in einer Art Listenverbindung mit der CSU zu versuchen, den Einzug zu schaffen. Doch davon wollte die Mehrheit in der Partei nichts wissen, weil sie berauscht vom Volkskammerwahlerfolg meinte, die DSU sei stark genug, sich gesamtdeutsch auszudehnen. Das aber störte das Machtgefüge zwischen CDU und CSU, weil damit letztere eine Partei unterstützt hätte, die ihrer Schwester bundesweit Konkurrenz macht. Was wiederum bei der CSU die alte Angst weckte, die CDU könnte sich als Reaktion nach Bayern ausdehnen – weshalb sie der DSU nach der Entscheidung zur Ausdehnung die Unterstützung entzog.
Kohl als Endgegner der DSU
Folge war ein Absturz der DSU bei der Bundestagswahl 1990 auf bundesweit 0,2 Prozent.
Schmiele: Ich habe immer vor der sofortigen Westausdehnung gewarnt, da ich als Berliner Landesvorsitzender bereits auch negative Erfahrungen mit der Ausdehnung der Partei nach West-Berlin hatte. Deshalb wurde mir von seiten der CSU signalisiert, sie würde mich als möglichen Parteivorsitzenden unterstützen. Doch lehnte ich dankend ab, weil mir trotz meiner Funktionen im Bundesvorstand, als parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion sowie Landesgruppenchef in Bonn eine Hausmacht fehlte. Schließlich trat ich 1991, nach der Trennung der CSU von der DSU, aus der Partei aus.
Selbst in den neuen Ländern kam diese bei der Bundestagswahl 1990 nur auf ein Prozent. Warum hielt sie sich nicht wenigstens dort oder zumindest in ihren Hochburgen Sachsen und Thüringen als Regionalpartei?
Schmiele: Bei der Bundestagswahl kam dazu, daß viele DSU-Wähler, anders als bei der Volkskammerwahl, Helmut Kohl wählen konnten, der in der Ex-DDR als Versprechen für Aufschwung und Freiheit galt. Und in Sachsen und Thüringen nahmen die teilweise beliebten CDU-Landesväter Kurt Biedenkopf und Bernhard Vogel der DSU die Stimmen ab.
Was, hätte sich die DSU in Mitteldeutschland etabliert?
Schmiele: Das ist Spekulation. Aber schon damals gab es in Teilen der CDU diese Harmoniebesoffenheit gegenüber der Linken und damit eine leichte Linksdrift in der Partei – die jedoch unter Helmut Kohl nur erduldet wurde. Das hat sich unter Merkel gedreht, nun hatten die CDU-Linksgrünen das Sagen. Aber das ist alles hypothetisch, nicht zuletzt weil sich beide Parteien in den Wahlkämpfen schwere Verletzungen zufügten und weil die CDU unter Merkel immer mehr die gemeinsamen Werte aufgab.
Wenig Ahnung, viel Euphorie
Die da wären?
Schmiele: Marktwirtschaftlich im erhardschen Sinne, freiheitlich, bürgerlich, patriotisch.
War die DSU also die AfD des Jahres 1990?
Schmiele: Nein, wir waren noch viel zu frisch und roh, während die AfD zwölf Jahre Zeit gehabt hat, sich zu finden – auch wenn sie aus meiner Sicht wohl noch braucht, bis ihr das ganz gelungen ist.
Inwiefern?
Schmiele: Auch ich stolperte damals euphorisch in die Politik, hatte von den machiavellistischen Mechanismen dort keine Ahnung. Im Schnellkurs mußte ich lernen, daß in der Politik nicht jeder alles laut sagen und man auch mal die Schnauze halten sollte. Damit aber hat die AfD bis heute Probleme: Manchmal ist, die Klappe zu halten, keine Anbiederung an die Linksgrünen, sondern die Kunst von Strategie und Taktik in der Mediendemokratie.
Dem Grundgesetz 1990 beigetreten
Die DSU war damals – als quasi etablierte Partei – dezidiert antilinks, was heute nur noch die AfD ist.
Schmiele: Das stimmt und hängt damit zusammen, daß im Westen die eigentlichen Lehren aus der DDR seltsamerweise nie richtig verstanden wurden.
Nämlich, welche Lehren?
Schmiele: In den über drei Millionen Jahren der Werdung des Menschen hat dieser positive und negative Eigenschaften erworben, die bis heute in seine Gesellschaften wirken – heute stehen sich im wesentlichen zwei Gesellschaftsentwürfe gegenüber: Der linksgrüne will viele dem Menschen über Millionen Jahre eingebrannte und heute als negativ eingestufte Eigenschaften aberziehen. Doch das ist unmöglich. Folge sind immer härtere linksgrüne Umerziehungsmaßnahmen, die nahezu immer im Totalitarismus enden.
Anders der konservative/rechte Gesellschaftsentwurf, der den Menschen so akzeptiert, wie er über Jahrmillionen geprägt wurde, und nur ein paar Regeln vorgibt, innerhalb derer er Mensch sein darf. Etwa ist das Streben nach Eigentum egoistisch, aber zugleich auch eine produktive Triebkraft. Integriert in die erhardsche soziale Marktwirtschaft führt das zu erfolgreichen bürgerlichen Gesellschaften mit Freiheit und Wohlstand.
Doch heute ist die Bundesrepublik für mich zur großen Demokratie- und Rechtsstaatsenttäuschung geworden, weil sie immer öfter mit den eisernen Regeln der freiheitlichen Demokratie bricht. Die Verfassung schützt die Bürger vor der Macht, und das Volk ist der Souverän und nicht die Politikelite. Beides aber wird immer weniger respektiert. Der Rechtsstaat lebt vom Grundsatz, „vor dem Gesetz sind alle gleich“. Auch hier sehe ich eine Erosion, insbesondere wenn politische oder ausländerrechtliche Entscheidungen anstehen.
Es überkommt mich Traurigkeit, wenn ich daran denke, wieviel besser der Zustand unseres Landes im Jahr der Wiedervereinigung war. Ich für meinen Teil bin dem Grundgesetz am 3. Oktober 1990 beigetreten, weil es erlebbar gut war und hoffentlich auch bleibt.
Dr. Joachim Schmiele war Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion der „Deutschen Sozialen Union“ des (am 18. März 1990) ersten frei gewählten DDR-Parlaments, der sogenannten Volkskammer, sowie ab der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 des ersten gesamtdeutschen Bundestags. Der Ingenieur wurde 1949 im brandenburgischen Schwarzheide in der Niederlausitz geboren.