Frau von Storch, am 25. Mai 2014 sind Sie mit sechs Kollegen als die ersten Volksvertreter der AfD überhaupt ins Europäische Parlament eingezogen, erinnern Sie sich noch?
Beatrix von Storch: Ich kann mich noch gut an den Wahlabend und die ersten Tage in Brüssel erinnern. Ich war bereits seit 1995 auf der Straße aktiv, damals noch für die Initiative „Göttinger Kreis – Studenten für den Rechtsstaat“. Wir haben Demonstrationen gegen die CDU organisiert, wegen des Bruchs und massiver Verstöße gegen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit durch die Kohl-Regierung. Im Zuge dessen war ich zu Gast im Kanzleramt beim damaligen Kanzleramtsminister Friedrich Bohl im Vorzimmer Helmut Kohls.
Ich habe Kundgebungen vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe organisiert, wegen der Euro-Rettung, aber auch vor dem Reichstag in Berlin. Ich hatte Nigel Farage kennengelernt, damals Chef der UKIP (UK Independence Party), der später das Vereinigte Königreich aus der EU führen sollte und Michail Gorbatschow – immer im Kampf für Rechtsstaat, Demokratie und Freiheit.
Und plötzlich stand ich nicht mehr vor dem Parlament, sondern war selber Mitglied! Der ganze Film meiner knapp zwanzig Jahre Engagement lief an diesem Abend vor mir ab. Ich war natürlich sehr bewegt. Der nächste Schritt: Jetzt würde ich nicht mehr von Abgeordneten Handlungen einfordern, sondern konnte selber handeln.
Sind die Dinge später so gekommen, wie Sie sie sich an jenem Wahlabend vorgestellt haben?
Storch: 2014 hätte es wohl kaum jemand für möglich gehalten, daß die CDU/CSU nur ein Jahr später die linksradikale Parole „Refugees welcome!“ übernehmen und die Grenzen öffnen würde.
Nicht die AfD hat sich seitdem radikalisiert, wie oft behauptet wird, sondern die Alt-Parteien haben einen Prozeß der Radikalisierung durchlaufen – von der Abwicklung von Kohle und Kernkraft bis hin zur juristischen „Abschaffung“ des biologischen Geschlechts.
Mit diesem Linksruck der Alt-Parteien ging dann auch die wachsende Ausgrenzung aller Kritiker dieses Kurses einher, ob innerhalb oder außerhalb der AfD.
Storch: „Nur dank der AfD funktioniert der Parlamentarismus noch“
Apropos Ausgrenzung: Wie war diesbezüglich der Umgang mit den sieben frischgebackenen Europaabgeordneten, zu denen Sie damals zählten?
Storch: Die Alt-Parteien hofften damals noch, die AfD würde von selbst wieder verschwinden. Als sich diese Erwartung aber nicht erfüllte, ließen sie ihre demokratische Maske, zum Teil ihre bürgerlichen Umgangsformen und alle Hemmungen fallen. Es ist nichts besser geworden, sondern vieles schlechter – das muß man leider so sagen.
Ihre sechs Mitstreiter von 2014 sind nicht nur keine Parlamentarier mehr, sie sind auch allesamt nicht mehr in der AfD. Haben sich bereits damals Bruchlinien zwischen Ihnen aufgetan?
Storch: Der Aufbau einer Partei ist ein sehr schwieriger, sich über viele Jahre erstreckender Prozeß. Das haben gerade in der Anfangszeit viele unterschätzt. Außerdem wollten die Herren Professores von Anfang nur die Euro-Rettung stoppen, waren aber jenseits dessen im wesentlichen programmatische Fremdlinge in der Partei. Die gehörten im Grunde zur CDU, und sie waren nicht politisch – sie konnten es einfach nicht.
2017 sind Sie dann in den Bundestag gewechselt: Ein politischer Kulturschock? Denn es geht dort doch ganz anders zu als im Europäischen Parlament.
Storch: Der Deutsche Bundestag ist trotz aller Kritik ein richtiges Parlament, in dessen Debatten stellvertretend für die deutsche Gesellschaft zentrale Konflikte ausgetragen werden. Das EU-Parlament ist dagegen kein wirkliches Parlament. Allein schon die Vielsprachigkeit macht einen Austausch schwer bis unmöglich. Zudem gibt es keine europäische Öffentlichkeit, die an den Debatten dort Anteil nehmen kann.
Die Ausgrenzung der AfD war dort jedoch geringer: Haß und Hetze gegen die AfD in den deutschen Medien kommen bei den EU-Kollegen natürlich weniger an, weil ja jeder seinen Fokus auf seinem Heimatland hat. Deutsche Innenpolitik interessiert da die wenigsten.
„Der Aufbau der AfD-Bundestagsfraktion ist eine historische Leistung“
Seit damals sind Sie auch stellvertretende Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion. Hat sich der Umgang der anderen Parteien mit dieser im Lauf der Zeit verändert?
Storch: Eine Fraktion aus dem Nichts aufzubauen ist eine Mammutaufgabe. Es gab keine Erfahrungen, auf die wir zurückgreifen konnten. Zu den allgemeinen Schwierigkeiten, die das für jeden darstellt, kamen die besonderen noch hinzu.
Zum Beispiel?
Storch: Etwa fanden wir zu Beginn keine Bank, konnten also die unserer Fraktion zustehenden Gelder des Bundestags nicht entgegennehmen, weil wir kein Konto hatten. Daß der Aufbau trotzdem gelungen ist, ist eine historische Leistung. Dieser Prozeß geht stückweit bis heute weiter, zumal der Druck auf uns von Tag zu Tag wächst.
Die Alt-Parteien haben verschiedene Strategien eingesetzt, um uns klein zu halten. Inzwischen versuchen sie nicht einmal mehr, den Schein von Demokratie zu wahren: Mit der jüngst wieder befeuerten AfD-Verbotsdebatte hat der Grad der Selbstradikalisierung der Alt-Parteien eine neue Stufe erreicht.
Bis heute werden der AfD Positionen wie ein Sitz im Bundestagspräsidium und inzwischen auch Vorsitze in den für die Parlamentsarbeit wichtigen Ausschüssen vorenthalten. Haben Sie anfangs geglaubt, das würde sich „einrenken“ oder war Ihnen von Beginn an klar, daß die Ausgrenzung sogar zunehmen würde?
Storch: Die Ausgrenzung der AfD ist ohne Beispiel in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus. Theoretisch kann in Zukunft jede Regierungsmehrheit der Opposition Vize-Präsidentenposten und Ausschußvorsitze vorenthalten.
Sie könnte mit diesem Demokratieverständnis auch beschließen, daß wir keine Redezeit bekommen oder keine Anträge mehr stellen dürfen. So führt man die Regeln des Parlaments ad absurdum!
Wenn Parteien lange eingeübte Tradition beenden, nach denen jede Partei im Bundestag den Anspruch auf bestimmte Positionen hat, verletzt man damit vielleicht nicht die Buchstaben des Gesetzes, aber den Geist der Demokratie.
„Die Alt-Parteien wollen Millionen von Bürgern um ihr demokratisches Recht bringen“
Nun plant der Bundestag eine neue Geschäftsordnung mit schärferen Regeln, „um vor allem für die AfD die Spielräume einzuschränken“ (Spiegel). Was kommt da auf die AfD-Fraktion zu?
Storch: Ich denke, immer mehr Menschen erkennen, daß mit massiver Repression gegen die Opposition vorgegangen wird. Den Alt-Parteien geht es offensichtlich nicht darum, die Demokratie zu verteidigen, denn Demokratie in der westlichen Welt bedeutet nicht nur, daß die Mehrheit entscheidet, sondern auch, daß die Minderheit Schutz genießt.
Die Alt-Parteien aber wollen Millionen von Bürgern um ihr Recht auf demokratische Repräsentation bringen. Das ist in einer westlichen Demokratie ein beispielloser Vorgang, den wir sonst nur aus autoritären Staaten kennen.
Etablierte Parteien und Medien sind sich weitgehend einig, die AfD habe den demokratischen Ton im Bundestag barbarisiert und arbeite daran, den Parlamentarismus zu zerstören. Was antworten Sie?
Storch: Die AfD ist die Kraft, die dafür sorgt, daß es überhaupt noch einen funktionierenden Parlamentarismus in Deutschland gibt. Die großen Debatten, Auseinandersetzungen und der notwendige Streit im Bundestag kommen überhaupt erst durch die AfD zustande.
Davon lebt der Parlamentarismus, dessen bundesdeutsche Glanzzeiten die harten Auseinandersetzungen zwischen Franz Josef Strauß und Herbert Wehner waren. Wenn zwischen allen Parteien im Bundestag großer Konsens herrscht, dann ist das nicht der „Konsens der Demokraten“, sondern das Ende einer funktionierenden Demokratie.
Was haben Sie in diesen zehn Jahren in der Politik über diese gelernt?
Storch: Politik ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Sie ist nichts für Glücksritter, die schnellen Erfolg suchen. Man braucht eine langfristige Perspektive und muß auch mit Rückschlägen und Enttäuschungen umgehen können.
Wichtig ist, daß man seinen inneren Kompaß nicht verliert. So wie ein Kapitän ohne Kompaß ziellos auf dem Meer treibt und seinen Bestimmungshafen nie erreicht, wird auch eine Partei niemals an ihr Ziel gelangen, wenn sie nicht dem inneren Kompaß folgt. Und was für die Partei gilt, gilt auch für alle, die in der Partei Verantwortung tragen.
„Die AfD kann heute im Prinzip fast ein Viertel der Wähler erreichen“
Zehn Jahre nach dem Triumph des ersten AfD-Parlamentseinzugs 2014 könnte die Partei bei der Europawahl am 9. Juni zwar ihr EU-Wahl-Resultat von damals (7,1 Prozent) mit derzeit 14 Prozent (Allensbach) beziehungsweise 17 Prozent (Insa) verdoppeln. Aber noch im Januar rangierte sie bei bis zu 23 Prozent: Welchen Anteil hat die AfD selbst daran, daß so viele Wähler inzwischen wieder Abstand davon nehmen, ihr Kreuz bei Ihnen zu machen?
Storch: Wir haben 2023 eine wichtige Erfahrung gemacht: Wir haben gesehen, wie groß das Potential der AfD ist: im Prinzip können wir fast ein Viertel der Wähler in Gesamtdeutschland erreichen – wenn wir ganz konkrete und praktische Probleme ansprechen. Selbst in einem westdeutschen Flächenland wie Hessen haben wir 18 Prozent der Stimmen gewonnen, was vorher kaum vorstellbar war!
Der Aufstieg der AfD begann mit Habecks Wärmepumpen-Zwang. Die hohen Energiepreise, Inflation und Asylbewerberzahlen sind weitere Probleme, die der AfD scharenweise neue Wähler zugetrieben haben. Das Fazit: Wir sind dann stark, wenn wir ganz nah bei den Sorgen der Bürger sind und Lösungen für ganz konkrete Probleme anbieten. Hobbyhistoriker haben das nicht im Blick.
Frau von Storch, Alexander Gauland nannte die AfD bekanntlich einen „gärigen Haufen“. Manche sehen das als Kompliment, manche als Zeichen politischer Unreife. Wie sehen Sie das und wo sehen Sie die AfD und Ihre Fraktion in fünf oder zehn Jahren?
Storch: Die Beschreibung „gäriger Haufen“ trifft offensichtlich nicht nur auf die AfD zu, sondern auf jede Partei. Die Linke ist quasi vor unseren Augen zerfallen, die FDP bewegt sich auf die außerparlamentarische Opposition zu, die SPD verliert den Status einer Volkspartei, in der CDU/CSU belauern sich Merz, Wüst, Günther und Söder, jederzeit kann der Konflikt darum aufbrechen, wer Kanzlerkandidat wird.
Bei vierzigtausend Parteimitgliedern können wir nicht erwarten, daß nicht auch bei uns Fehler und menschliches Versagen vorkommen. Für den langfristigen Erfolg der AfD kommt es darauf an, daß wir unsere Arbeit immer wieder kritisch bewerten, unsere Fehler korrigieren und Konsequenzen aus ihnen ziehen und unserem inneren Kompaß treu bleiben.
Beatrix von Storch. Die 1971 in Lübeck geborene Herzogin von Oldenburg ist Rechtsanwältin und Vize-Fraktionschefin der AfD im Bundestag, dem sie seit 2017 angehört, nachdem sie 2014 zu den ersten sieben AfD-Parlamentariern überhaupt gehörte und drei Jahre im Europäischen Parlament saß. Außerdem führte sie von 2016 bis 2017 den Berliner Landesverband der Partei, dessen stellvertretende Vorsitzende sie seitdem ist. Zuvor gründete sie verschiedene zivilgesellschaftliche Initiativen, wie die „Zivile Koalition“/„Zivile Allianz“, „Abgeordneten-Check“, die von ihrem Ehemann geleitete „Initiative Familien-Schutz“ und betreibt die Internet- und Blogzeitung „Die freie Welt“. 2023 war sie zu Gast bei JF-TV und schrieb den vielbeachteten Gastbeitrag „Die globale Finanzindustrie als Treiber der Klimapolitik“.