Der Luftangriff auf Dresden war zwar militärisch sinnvoll, moralisch aber zu verurteilen. Zu diesem Schluß gelangte der britische Historiker Frederick Taylor. Im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT verteidigt Taylor seine Thesen, die in Großbritannien und Deutschland kontrovers diskutiert werden. Das Interview führte JF-Redakteur Moritz Schwarz.
Herr Taylor, können Sie uns den psychischen Zustand erklären, in dem sich die Briten in bezug auf den Bombenkrieg gegen Deutschland befinden.
Taylor: Die Mehrzahl der Briten empfindet große Achtung vor dem Mut und der Opferbereitschaft der Flieger-Besatzungen. Viele Briten glauben, daß der Bombenkrieg bei dem Sieg über Deutschland und der Befreiung Europas eine wichtige Rolle spielte. Nichtsdestotrotz empfinden die meisten Briten Unbehagen bei dem Gedanken an die zahlreichen deutschen Zivilisten, die alliierten und insbesondere britischen Bomben zum Opfer fielen. Es ist nicht ungewöhnlich, daß Menschen zwiespältige Gefühle hegen, wenn es um einen Krieg geht, insbesondere um einen Krieg von der moralischen Komplexität des Zweiten Weltkriegs – eines erbarmungslosen Daseinskampfs zwischen industrialisierten Staaten, der in dieser Form historisch einmalig ist.
Im übrigen, dies nur zur Richtigstellung, wird diese Frage seit Jahrzehnten in Großbritannien ausgiebig diskutiert. Zu behaupten, es handle sich hierbei um „eine nicht wirklich aufgearbeitete dunkle Seite“ der britischen Geschichte, ist schlicht und einfach unrichtig.
Ihr Buch „Dresden. Dienstag, 13. Februar 1945“ gilt etwa dem Deutschlandfunk als Gegenbuch zu Jörg Friedrichs „Der Brand“.
Taylor: Herrn Friedrichs Buch erschien zu einem Zeitpunkt, als ich gerade dabei war, das Manuskript meines Dresden-Buchs fertigzustellen. Es hat mich weder beeinflußt, noch war mein Buch eine irgendwie geartete Reaktion darauf. Diejenigen, die es anders sehen, sehen es falsch.
Ein militärisch legitimes Ziel
Sie beschreiben in Ihrem Buch die Stadt Dresden als militärisch legitimes Ziel, weil es dort Rüstungsbetriebe und wichtige Infrastruktur gab. Inwiefern legitimiert dies moralisch die gezielte Massenvernichtung von Zivilisten?
Taylor: Daß Dresden mit seinen Fabriken und militärischen Anlagen eine militärische und industrielle Bedeutung hatte, die die Stadt zu einem legitimen Ziel machte, liegt für mich auf der Hand. Dennoch hätten die britischen Oberbefehlshaber aufgrund ihrer historischen und kulturellen Bedeutung die Entscheidung treffen können, von einer Bombardierung abzusehen. Persönlich wünschte ich mir, daß die RAF die Stadt nicht derart wahllos bombardiert hätte.
Da sie es aber nun einmal getan hat, war es mir in meiner Funktion als Historiker wichtig, bei der Schilderung der Umstände, unter denen die Stadt zerstört wurde, die weitverbreiteten und oft wiederholten Legenden zu widerlegen, Dresden sei eine „Stadt ohne Industrie“ bzw. „ohne jegliche militärische oder industrielle Bedeutung“ gewesen.
Wie dem auch sei, letztlich wurde Dresden nicht wegen seiner Bedeutung als Industriestandort bombardiert, sondern im Bestreben, chaotische Zustände hinter der Ostfront zu schaffen. Ich habe keinen Zweifel daran gelassen, daß ich dies für eine rücksichtslose Kriegshandlung halte, die moralisch schwer zu rechtfertigen ist, der aber eine gewisse schreckliche militärische Logik innewohnte.
Vergleich mit dem Angriff auf Coventry
In Ihrem Buch sagen Sie, in Coventry gab es Industrie und in Dresden gab es Industrie. Ergo ist beider Vernichtung gleichermaßen legitim beziehungsweise gleichermaßen verbrecherisch. Ist das Ihre Position?
Taylor: Da haben Sie mich mißverstanden. Coventry hatte eine der besterhaltenen mittelalterlichen Altstädte in England. Es war aber ebenso ein wichtiges industrielles Zentrum und somit ein legitimes Ziel für Ihre Luftwaffe. Gleichwohl waren die Mittel, die die Luftwaffe gegen die Stadt einsetzte, ebenfalls ruchlos.
Die überwiegende Zahl der Opfer waren Zivilisten, darunter viele Frauen, Kinder und Alte. Dagegen fiel nur eine handvoll Soldaten – und die meisten von ihnen hatten dienstfrei und starben an Orten wie Kinos. Bomben mit Verzögerungszünder und Luftminen an Fallschirmen – mit denen man gar nicht gezielt treffen kann – wurden über zivilen Stadtteilen abgeworfen. Ebenso große Mengen von Brandbomben über dem historischen Stadtzentrum.
Noch einmal, ich bedaure die Zerstörung Dresdens aufrichtig, und meine persönliche Meinung ist: Seine historische and architektonische Bedeutung hätte es vor der Zerstörung bewahren sollen, zumindest in seinem historischen Kern – trotz der Existenz von Fabriken, Armee- und Transporteinrichtungen in der Stadt. Daß dies nicht der Fall war, zeugt davon, wie weit die Brutalisierung des Kriegs zu diesem Zeitpunkt fortgeschritten war.
Verübte auch die Luftwaffe „Morale Bombing“?
Bei aller Ruchlosigkeit zielten die deutschen Luftangriffe auf Großbritannien – mit Ausnahme der späteren Baedecker- und der V-Waffen-Attacken – auf militärisch-industrielle Ziele und nicht per se nur noch auf die Zivilbevölkerung, wie beim „Morale Bombing“, also den britischen Flächenangriffen.
Taylor: Ich habe allgemein ein moralisches Problem mit Flächenangriffen auf Städte. Diese Kriegsführung, einzigartig bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, ist schon von sich aus moralisch zweifelhaft. Darüber zu debattieren, ob dieser oder jener Angriff, ob diese oder jene Luftwaffe „industrielle“ oder „militärische“ Ziele anvisierte, erscheint mir etwas fragwürdig.
Aber zurück zu Coventry: Nach meinem Wissen gibt es keinen Zweifel daran, daß der deutsche Angriff, obwohl er sich gegen militär-industrielle Ziele richtete, ebenso auf die Arbeitskräfte zielte, gegen ihre Wohnhäuser, gegen ihre Moral und gegen die Infrastruktur und öffentlichen Einrichtungen der Stadt. Sicher war die Zahl der getöteten Zivilisten und der zerstörten zivilen Gebäude sehr groß. Das gleiche gilt für London und andere Städte.
Die deutschen Angriffe waren legitim, soweit das im Rahmen des Luftkrieges möglich ist, aber so zu tun, als hätten sie nichts mit „Morale Bombing“, also mit Flächenangriffen, zu tun, ist nicht zutreffend. Das gleiche gilt weitgehend für britische Angriffe auf deutsche Städte, mindestens bis 1943, als das „Morale Bombing“ eine wachsende – finstere – Rolle in der alliierten Luftkriegsstrategie zu spielen begann. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die alliierte Luftkriegsführung verselbständigt: Die gewaltige Bomberflotte, die nun existierte, wurde zunehmend als grobes Mittel ebenso gegen die Moral des Feindes wie gegen dessen Industrie und Armee eingesetzt.
Die Royal Air Force lernte technisch von der Luftwaffe
Auch Ihre Landsleute Anthony Grayling und Richard Overy halten die These, Großbritannien habe nur massiv vergolten, was Deutschland zuvor begonnen habe, für falsch. Warum kommen diese offenbar zu einem anderen Resultat als Sie?
Taylor: Professor Grayling, den ich persönlich kenne und respektiere, ist kein Historiker sondern Philosoph. Was Professor Overy angeht, der ein echter Experte ist, haben Sie die Nuance seiner Argumente offenbar nicht verstanden. Er hat recht, daß die Alliierten, besonders die Royal Air Force, im Laufe die Krieges die Unterscheidung zwischen strikt industriellen oder militärischen und zivilen Zielen aufgab, so daß die Angriffe oft unterschiedslos ausgeführt wurden. Das steht außer Frage und ist ein schwarzer Fleck auf der Moral der Royal Air Force.
Allerdings kann es keinen Zweifel geben, daß die Royal Air Force technisch sehr viel von den Angriffen der Luftwaffe auf England gelernt hat, in der Hinsicht, wie man ganze Städte attackiert und ausschaltet – und nicht nur ihre Industrie. Besonders gilt das für Coventry, das das erste und beste Beispiel für einen massiven Bombenangriff neuen Typs war, den die deutsche Luftwaffe eingeführt hatte. Die Briten griffen dieses Modell auf und vervollkommneten es. In diesem Sinne würde ich sagen, daß der Schüler – Großbritannien – den Meister – die deutsche Luftwaffe – überflügelte und dessen Lehren noch ruchloser, unterschiedsloser und in noch größerem Maßstab zur Anwendung brachte.
Pardon, aber ist der springende Punkt nicht der britische Wechsel zur Strategie des „Morale Bombing“ ab 1942/43: Von da an ging es primär nicht mehr um die Vernichtung kriegsrelevanter Einrichtungen, sondern nur noch darum, möglichst viele Zivilisten umzubringen (um die Moral des Gegners zu brechen).
Dazu Ihr Kollege Max Hastings: „Ich bin durchaus der Auffassung, daß die alliierten Bombenangriffe auf Deutschland ein ‘Kriegsverbrechen‘ gemäß den Standards des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg darstellen.“ Einen solchen Strategiewechsel gab es – wie gesagt mit Ausnahme der Baedecker- und V-Waffen-Angriffe – auf deutscher Seite nicht. Auch wenn Hitler und Goebbels nachweislich davon geträumt haben.
Taylor: Mir scheint, im Grunde fragen Sie mich immer wieder die gleiche Frage. Sir Max Hastings hat eine sehr gute Arbeit über das britische Bomber Command erstellt – vor 35 Jahren – und hat eine Meinung über die Nürnberger Prozesse, zu der er höchst berechtigt ist. Allerdings ist er ein Journalist und kein Experte für Völkerrecht.
Es gibt keinen Zweifel, daß die alliierte Luftkriegsstrategie nach 1942 wechselte und zwar moralisch zum Schlechten. Von deutscher Seite aus gab es ab diesem Zeitpunkt keine ernsthafte Luftoffensive mehr gegen Großbritannien – mit Ausnahme der von Ihnen erwähnten Baedecker-Raids, die soweit ich weiß als Vergeltungsangriffe betrachtet wurden, und die V-Waffen-Angriffe, die in der Tat völlig wahllos waren. Deutschland hatte keine nennenswerten schweren Bomber, und seine Luftwaffe war vollauf in Rußland beschäftigt, wo ihre Einsätze auf keinen Fall moralischen oder rechtlichen Gesichtspunkten unterworfen waren.
Ähnlichkeiten des Bombenkrieges zu NS-Vernichtungslagern?
Jörg Friedrich ordnet dem Entfachen eines Feuersturms in einer zivilen Stadt wie in Dresden implizit das gleiche moralische Niveau zu wie Auschwitz. Mit dem Unterschied: Die Royal Air Force beabsichtigte mit ihren Massenmorden nicht die Ausrottung der Deutschen. Aber im industriellen Vernichten von Zivilisten: hier träfen sich Auschwitz und Bomber Command.
Taylor: Herr Friedrich unterschlägt vorsätzlich den Unterschied zwischen zwei Phänomenen, die zugegebenermaßen insofern in einem Zusammenhang zueinander stehen, als es bei beiden um die Ausübung von Gewalt gegen Zivilisten geht, die sich aber ansonsten voneinander unterscheiden. Im ersten Fall handelt es sich um die rassistisch und ideologisch motivierte Inhaftierung und systematische Ermordung von Millionen hilfloser und unschuldiger Zivilisten durch den deutschen Staat.
Die RAF tötete und verwundete deutsche Zivilisten im Zuge von Angriffen auf verteidigte Städte, die teilweise auf die Orte zielten, wo sie lebten und arbeiteten. Viele dieser Orte – wenn auch, wie Sie zu Recht anmahnen, nicht alle – waren von kriegsentscheidender Bedeutung. In beiden Fällen wurden industrielle Methoden zu bösen Zwecken verwendet, wenn Sie so wollen. Während jedoch letzteres sicherlich moralisch fragwürdig ist, ist ersteres (nämlich der Massenmord an willkürlich ausgewählten wehrlosen Zivilisten durch den Nazi-Staat) nach dem Moralkodex, der für jede zivilisierte Gesellschaft gilt, vollkommen inakzeptabel.
Richard Overy teilt offenbar Friedrichs These, er sagt: „Wenn man diese These unter dem Gesichtspunkt der Moderne sieht, also die Abstraktion des Tötens betont, die Bürokratisierung der Vernichtung, das verwaltungstechnische Planen und Durchführen der Morde, das Beamtenverhalten der Täter hinter ihren Büroschreibtischen, also die Distanz zwischen Täter und Opfer, so findet man all das auch als Charakteristikum des Bombenkrieges. Ja, ich glaube, daß der Holocaust und der Bombenkrieg einen gleichen Kontext teilen, daß sie bei allen Unterschieden verwandt sind in der Frage, wie Verantwortung ausgeübt, Planung und organisatorische Durchführung eines Massenmordes bewerkstelligt wurden.“
Taylor: Auch hier ignorieren Sie wieder die Nuancen in Overys Argumentation und zitieren ihn aus dem Zusammenhang gerissen. Overy weist zu Recht auf die einigermaßen offensichtlichen, ja banalen Ähnlichkeiten hin, die sich aus dem bürokratischen und industrialisierten Charakter der von ihm beschriebenen Prozesse ergeben. Daß er Friedrichs zugrundeliegende These teilt, ist jedoch schlicht und einfach falsch. Zum Beleg möchte ich eine Passage aus Overys Rezension der englischen Übersetzung von „Der Brand“ zitieren:
„Die Kernbehauptungen des Buchs halten der geschichtswissenschaftlichen Prüfung kaum stand. … Genausowenig stimmt es, daß der britischen Bomberflotte jemals ein ausschließlicher Befehl zur Ermordung der deutschen Bevölkerung erteilt wurde. Die Area Bombing Directive vom 14. Februar 1942 enthielt einen langen Anhang, der bei Friedrich keine Erwähnung findet, in dem präzisere militärische und wirtschaftliche Ziele aufgeführt sind. Zugleich werden die Angriffe auf solche Städte beschränkt, in denen sich große Industriegebiete und Arbeiterwohngebiete befinden.
Während des letzten Kriegsjahrs stand die Bomberflotte über lange Strecken hinweg unter dem Befehl, Verkehrs-, Öl- und andere militärische Ziele anzugreifen, die für den Bodenkrieg entscheidend waren, der Deutschland 1945 überrollte. Natürlich resultierten diese Angriffe, sowohl die britischen als auch die amerikanischen, in sehr hohen Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung und der Zerstörung zahlreicher Innenstädte – es ist jedoch wichtig, erst die Fakten zu klären, bevor man argumentiert, das Bomber Command habe im Alleingang absichtliche und nachhaltige Kampagnen zur Ausrottung der Zivilbevölkerung unternommen. Bei der Bewertung eines Verbrechens muß immer das Motiv ordnungsgemäß nachgewiesen werden.“
Aus dieser Passage geht eindeutig hervor, daß Overy die These Friedrichs keineswegs teilt, vielmehr handelt es sich um eine detaillierte, nuancierte und rationale Auseinandersetzung mit ebendieser These. Overy stimmt Friedrichs grundlegendem moralischen Argument großenteils zu, seine historische Erzählung jedoch hält er für falsch.
Eine Rettung der versklavten Völker Europas um jeden Preis
Anthony Grayling meint, Maßstab für die Bewertung der britischen Kriegführung könnten nicht die Handlungen der Nationalsozialisten sein, sondern der moralische Anspruch, mit dem Großbritannien in den Krieg eingetreten sei.
Taylor: Es ist keine Frage, daß die Alliierten viele der Prinzipien aufgaben, unter denen sie angeblich den Krieg als Antwort auf die deutsche Aggression begonnen haben, wie Professor Grayling zu Recht feststellt. Da wäre zunächst das Bündnis mit der brutalen kommunistischen Diktatur nach dem Juni 1941. Obwohl in der Praxis notwendig, bedeutete es jeden Anspruch auf moralische Reinheit aufzugeben.
Was Professor Grayling, in seiner hoch geistigen Art, schwer verständlich findet, ist, daß dies insgesamt kein ungewöhnliches oder überraschendes Phänomen ist, sobald ein Krieg für die Gerechtigkeit als ein Krieg für das nationale Überleben betrachtet wird. Das ist der Punkt, wo ich mit ihm nicht einig bin. Es erscheint mir unrealistisch, die Greueltaten der Nazis als gänzlich irrelevant für die Diskussion zu betrachten.
Spätestens 1942 wurde klar, daß ein Sieg der Alliierten und die Rettung der versklavten Völker Europas dringende Notwendigkeiten waren, die fast jeden Preis – ob nun von den Alliierten gezahlt oder den Ländern der Achse aufgezwungen – rechtfertigte. So sahen zu dieser Zeit die meisten Menschen in England und Amerika die Situation. Die alliierte Luftoffensive gegen Deutschland muß in diesem Kontext gesehen werden.
Streit um die Opferzahlen
Als zentral in der Debatte hat sich in puncto Dresden die Frage nach der Opferzahl herauskristallisiert. Sie gehen in Ihrem Buch von 25.000 bis 40.000 Opfern aus. Wieso können Sie höhere Zahlen ausschließen? Wie zuverlässig kann die Geschichtswissenschaft die Opferzahl rekonstruieren?
Taylor: Es ist immer schwierig, sicher zu sein. Mein Buch ist nun mehr als zehn Jahre alt. Inzwischen wurden neue Dokumente ausgewertet. Jüngste Forschungen setzen die Zahl sogar noch niedriger an, nämlich zwischen 18.000 und 25.000. Instinktmäßig tendiere ich zu einer etwas höheren Zahl, aber das ist eine bloße Ahnung. Es ist die Zahl von Hunderttausenden Opfern, die ausgeschlossen werden kann.
Es soll eine unbekannte Zahl an Flüchtlingen in der Stadt gewesen sein. Viele Opfer verbrannten völlig oder verschwanden in den Trümmern. Wie konnte ihre Zahl nachträglich so genau erfaßt werden?
Taylor: Niemand nimmt für sich in Anspruch, in der Lage zu sein, die Zahl der Flüchtlinge, die am 13. Februar 1945 in der Stadt waren, berechnen zu können. Was getan wurde, war die Zahl der Toten zu errechnen. Was wir wissen, zum Beispiel aus Unterlagen und von Zeitzeugenberichten, ist, daß man damals Flüchtlinge davon abzubringen versuchte, nach Dresden zu gehen. Die, die dennoch kamen, wurden so rasch wie möglich in die Außenbezirke geleitet.
Folglich war die Flüchtlingszahl im Stadtzentrum in der Nacht des Angriffs wohl tatsächlich sehr viel geringer, als viele Leute denken. Gleichwohl verursacht es ein Element der Unsicherheit, und echte Präzision ist in dieser Frage meiner Ansicht nach unmöglich. Man muß zubilligen, daß die tatsächliche Opferzahl in beide Richtungen um ein paar tausend Menschen abweichen kann, um diese unvermeidliche mangelnde Exaktheit auszugleichen. Daher neige ich zu einer leicht erhöhten Schätzung der Zahl.
Die städtische Kommission, die 2006 die Zahl festlegte, trat mit dem erklärten Ziel an, Rechtsextremisten, die übertriebene Zahlen verbreiteten, damit das Wasser abzugraben. Auch wenn das Vorgehen der Kommission wissenschaftlich korrekt gewesen sein mag, wie beurteilen Sie ein wissenschaftliches Unterfangen, das sich von vornherein in den Dienst einer politischen Sache stellt?
Taylor: Die deutsche Rechte setzt die Zahl der Dresdner Opfer seit vielen Jahren viel zu hoch an. Diese Rechte hat ein erhebliches politisches Interesse daran, die Opferzahlen möglichst sensationell zu übertreiben. Unter seriösen Historikern bestand bereits der Konsens, daß diese Zahlen falsch waren, und man glaubte, daß eine Zusammenfassung ihrer Forschungsergebnisse diesen Konsens für die Öffentlichkeit dokumentieren und dadurch zur Widerlegung der politisch motivierten Behauptungen der Rechten beitragen würde.
Aus Sicht der Holocaust-Leugner scheint wohl auch die wissenschaftliche Forschung zu Auschwitz im Dienst einer „politischen Sache“ zu stehen, und aus Sicht derer, die sich weigern, zu akzeptieren, daß der Klimawandel eine Tatsache ist, gilt das vermutlich für die Forschung, die die entsprechenden Nachweise erbringt. Entsprechend behauptet die deutsche Rechte, die Arbeit der Historikerkommission diene einer „politischen Sache“. Eine solche Anschuldigung entbehrt jeder Grundlage.
Hat die Kommission damit nicht von Beginn an den Verdacht genährt, hier ginge es um eine „bestellte Zahl“, folglich gerade das Mißtrauen geradezu angefacht.
Taylor: Ich kenne etliche der beteiligten Historiker und betrachte sie als ehrenwerte Männer. Es ist beleidigend und falsch, ihnen zu unterstellen, sie seien berufen worden, um eine „bestellte Zahl“ zu liefern. Durch die Bank handelte es sich dabei um Wissenschaftler mit fundierter Fachkenntnis, an deren Integrität kein Zweifel bestehen konnte. Der Anwurf ist absurd, aber ich bin sicher, daß all das für die Verschwörungstheoretiker keine Rolle spielen wird. Ich bin überrascht und beunruhigt, daß Sie diese Vorwürfe wiederholen.
Tieffliegerangriffe waren alltäglich – aber nicht in Dresden
In Ihrem Buch stellen Sie dar, warum es keine Tieffliegerangriffe auf die überlebenden Dresdner gegeben haben kann. Warum nicht, wo es solche Angriffe auf Zivilisten doch in ganz Deutschland gegeben hat.
Taylor: In der Tat waren Tieffliegerangriffe auf Zivilisten nichts ungewöhnliches, sowohl von Seiten der alliierter, wie der deutschen Luftwaffe. Oft geschah das in Zusammenhang mit einem Bombenangriff. Der Punkt in Dresden ist: Es gibt keine Dokumente, die das belegen, weder von alliierter, noch von deutscher Seite. Dagegen gibt es Dokumente in den USA, die belegen daß die die Bomber begleitenden Jagdflieger ausdrücklich den Befehl erhalten hatten, auf solche Angriffe zu verzichten, da es sich um einen Langstreckenangriff handelte und sie Sprit sparen sollten.
Zudem gab es in den ersten Jahren keine Berichte über solche Angriffe, weder in Briefen, militärischen Berichten oder der Nazi-Presse, die stets bestrebt war den alliierten Piloten Barbarei nachzuweisen. Erst in den Fünfziger Jahren tauchten im Sensationsbericht eines westdeutschen Journalisten auf, der sie in einem anderen Stadtteil stattfinden läßt. Vor allem aber, hat nie ein US-Pilot berichtet, daß er so einen Angriff geflogen sei.
Wenn Sie nun glauben, „Natürlich, weil es ihnen peinlich war!“, dann kennen Sie die Amerikaner schlecht. Einige wären stolz darauf gewesen und hätten das der Welt auch mitgeteilt. Der überlebende Pilot, den ich interviewen konnte, reagierte mit vollkommenem Befremden auf meine Vermutung, daß ein solcher Angriff stattgefunden haben könnte.
Wie ist dann zu erklären, daß sich viele Überlebende an diese Angriffe erinnern?
Taylor: Das ist der Punkt, wegen dem ich das ganze Thema so problematisch finde. Gut möglich, daß Luftkämpfe zwischen deutschen und US-Maschinen in niedriger Höhe als Tieffliegerangriff mißverstanden wurden. Ein Zeitzeuge übrigens, den ich befragt habe, ein Mann von unzweifelhafter Ehre, berichtete, er sei am Tag nach dem Angriff die Elbwiesen entlanggegangen, ohne dort Körper zu sehen. Dabei müssen dort damals hunderte, oder wie manche meinen, tausende Körper gelegen haben.
Es wurde viel dazu geforscht, wie Erinnerungen entstehen und Konsens ist heute, daß Erinnerung, besonders kollektive Erinnerung, nichts reines und dauerhaftes, sondern etwas bunt Verformbares ist, dem Wandel unterworfen und abhängig von gegenseitiger Berichterstattung. Im Fall Coventry etwa gibt es etliche Überlebende, die berichten, deutsche Bomber hätten sie mit Maschinengewehren beschossen. Wir wissen aber, daß das nicht der Fall gewesen sein kann.
Falls es sich um Einbildungen handelt, ist dann davon auszugehen, daß auch die Überlebenden anderer Massaker sich eventuell noch zusätzliche Gräueltaten einbilden? Wäre dies dann auch etwa für den Holocaust denkbar? Was könnte dazu geführt haben, daß nur die Dresdner unter diesen Einbildungen leiden?
Taylor: Niemand würde je behaupten, daß die Dresdner dergleichen als einzige erlebt hätten. Wie gesagt, in Coventry gibt es ähnliche Geschichten, bei denen es sich ganz oder teilweise um Legenden handelt. Fest steht jedoch, daß der Holocaust – ein Prozeß, der über einen Zeitraum von mehreren Jahren stattfand und den Millionen von Menschen unabhängig voneinander erlebten – in keiner Hinsicht mit dem gleichgesetzt werden kann, was möglicherweise am Morgen des 14. Februar 1945 in Dresden passiert ist.
Was die Dresdner erlebten, ähnelt eher der Erfahrung von Opfern einer Naturkatastrophe, einer Gewalttat oder eines schweren Verkehrsunfalls – ein plötzliches traumatisches Ereignis, das die Sinne sozusagen aus der Bahn wirft, so daß den Erinnerungen möglicherweise nicht zu trauen ist. Jeder Polizist wird Ihnen bestätigen, daß es bei der Feststellung der Fakten nach Verbrechen oder Unfällen zahlreiche unterschiedliche, oft sogar widersprüchliche Versionen ein und desselben Ereignisses gibt.
Als Historiker ist man aus Erfahrung skeptisch. Soviel von dem, woran Überlebende und Zeitzeugen so inbrünstig festhalten, ist nachweislich falsch (und zwar keineswegs nur im Fall Dresden), daß man auf andere zeitgenössische Belege angewiesen ist. Im Fall des angeblichen Massakers auf den Elbwiesen liegen schlicht und einfach keine derartigen Belege vor.
Der Bombenkrieg spielte eine signifikante Rolle für den alliierten Sieg
Sie stellen den Bombenkrieg als militärisch sinnvoll dar. Kritiker wenden jedoch ein, er hat 55.000 Briten das Leben gekostet und Unsummen Geld verschlungen. Der Einsatz dieser Männer und Gelder an anderer Stelle hätte aber weit mehr gebracht. Der Bombenkrieg sei also sogar kontraproduktiv gewesen und habe den Krieg nicht verkürzt, sondern verlängert.
Taylor: Es mag sein, daß ein anderer Einsatz dieser Ressourcen mehr gebracht hätte. Das gilt nachträglich betrachtet für viele menschliche Unternehmungen. Im Krieg freilich, kosten solche Fehler oft tausende oder millionen Leben. Die Bombardierung Deutschlands brachte einen gewissen Erfolg: Sie beruhigte die Russen und ermöglichte es den Anglo-Amerikanern die Invasion Europas so lange zu verschieben, bis sie die Chance hatten mit ihr erfolgreich zu sein. Sie förderte die Moral der Menschen in den besetzten Ländern, die spüren konnten, daß ihre deutschen Besatzer ebenfalls litten. Und an der Heimatfront schädigte sie die deutsche Industrieproduktion. Allerdings nicht so sehr, wie die Planer der britischen und US-Luftwaffe gehofft hatten.
Was nicht gelang war, die Deutschen gegen die Nazis aufzubringen, sie zeigte aber, daß der Nazi-Staat schwach war und seine eigenen Bürger nicht schützen konnte. Sie bewarb zudem quasi die schiere wirtschaftliche und industrielle Kraft der Alliierten und stärkte die Vorstellung, der alliierte Sieg sei unausweichlich. Sie bewirkte weiter, daß wichtige deutsche Ressourcen vom Heer zur Luftverteidigung umverteilt werden mußten.
Deutschland war nach 1942 gezwungen, eine defensive Nachtjäger-Flotte aufzustellen, statt zum Beispiel eine schwere Bomberflotte, die es ihm vielleicht ermöglicht hätte, zurückzuschlagen. Und so weiter. Alles in allem spielte die Luftoffensive gegen Deutschland eine signifikante Rolle für den alliierten Sieg, wenn vielleicht auch nicht die entscheidende, die man sich erhofft hatte. Daß sie den Krieg verlängert hat, glaube ich nicht. Ob sie ihn tatsächlich verkürzt hat – das ist diskussionswürdig. Hat sie sich gelohnt? Unmöglich zu sagen.
Die Luftoffensive erlangte schließlich 1944/45 eine Eigendynamik und konnte aus politischen und Prestige-Gründen – vergessen Sie nicht die anhaltenden deutschen Raketenangriffe auf England – nicht mehr einfach gestoppt werden. Es gibt ein amerikanisches Sprichwort: Ist dein einziges Werkzeug ein Hammer, dann suche Nägel, die du damit einschlagen kannst. Die Anglo-Amerikaner hatten sich in Gestalt ihrer Luftwaffen einen enormen, gewaltigen Hammer geschaffen. Von diesem Standpunkt aus sahen die deutschen Städte sehr wie Nägel aus.
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Frederick Taylor, Jahrgang 1947, gilt seit seinem Buch „Dresden, Dienstag, 13. Februar 1945“ als einer der profiliertesten Kenner der Geschichte Dresdens im Zweiten Weltkrieg.
Das Interview erschien in gekürzter Fassung in der Ausgabe JF 08/15