Herr Romeike, die „Zeit“ schreibt: „Seit dem Krieg hat es so einen Fall nicht mehr gegeben: Deutscher erhält Asyl in den USA!“
Romeike: Tatsächlich bekommt, soweit ich weiß, immer wieder mal ein Deutscher hier Asyl. Aber es ist richtig, daß unser Fall ein ziemliches Medienecho ausgelöst hat.
„New York Times“, „USA Today“, „Time Magazine“, NBC, Fox News, kaum ein US-Medium, das nicht berichtet hat. Sogar die ostasiatische „Taiwan News“ zitiert Sie mit den Worten, Ihre Familie werde auch aufgrund ihrer religiösen Überzeugung verfolgt.
Romeike: Einige Medien haben betont, daß wir Freikirchler sind. Aber ich sehe unseren Glauben nicht als den Grund unserer Verfolgung an, sondern die Tatsache, daß wir unsere Kinder zu Hause unterrichtet haben. In allen anderen europäischen Ländern gilt es als ein fundamentales Menschenrecht, daß Eltern die Bildung und Erziehung ihrer Kinder frei wählen können. Das schließt Homeschooling mit ein.
„Die Kinder steckt man ins Heim, die Eltern ins Gefängnis“
Das US-Gericht hat Ihnen eine „gut begründete Furcht vor Verfolgung“ in Deutschland attestiert.
Romeike: Mal angenommen, wir würden wieder zurück nach Deutschland gehen und unsere Kinder zu Hause unterrichten, was würde geschehen? Die Leute haben sich in der Regel nicht mit dem Thema beschäftigt. Sie können sich nicht vorstellen, was es bedeutet, wenn etwa die Polizei morgens bei ihnen zu Hause Sturm läutet.
War es Ihnen zuvor klar?
Romeike: Nein, keineswegs. Allein das zwanzigminütige Dauerläuten der Polizei – wir haben gehofft, wenn wir nicht öffnen, gehen sie wieder – hat dazu geführt, daß unsere Familie wochenlang aufschreckte, wenn vormittags die Türklingel ging. Die Leute können sich nicht vorstellen, was es heißt, wenn bewaffnete Beamte ihre Kinder gewaltsam zur Schule bringen, wenn die Kinder deshalb weinen und vor Angst verstört sind. Wenn ihnen ein Bußgeldbescheid nach dem anderen ins Haus flattert, die ihre Familie bald finanziell ruinieren. Wenn Ihnen schließlich die Kinder weggenommen und in Heime gesteckt werden. Wenn sie als Eltern, weil sie das Bußgeld nicht bezahlen können, im Gefängnis landen – erst der Vater, dann die Mutter – und wenn sie schließlich endgültig das Sorgerecht verlieren. Mit einem Wort, wenn ihre Familie systematisch zerstört wird. Genau das geschieht heute in Deutschland mit den Homeschooling-Familien!
War denn Ihr Widerstand all das wert?
Romeike: Auf jeden Fall! Denn wir können hier als Familie so leben und unsere Kinder fördern, wie es in Deutschland leider nicht möglich war.
Die „Welt“ kommentierte allerdings: „Die Romeikes schaden ihren eigenen Kindern.“
Romeike: Wir mußten als Eltern eher erkennen, daß die Schule unseren Kindern schadete! Darum haben wir uns für Homeschooling entschieden. Aus dieser Verantwortung für sie haben wir gehandelt. Was unsere Kritiker von uns verlangen, ist nichts anderes, als aus unserer Sicht zum Nachteil unserer Kinder zu handeln und damit gegen unser Gewissen zu verstoßen.
In jeder Gesellschaft gibt es eine Ordnung.
Romeike: Wir fordern nicht, die Ordnung umzustoßen, und stehen nicht auf dem Standpunkt, daß Freiheit bedeutet, jeder kann machen, was er will.
Sondern?
Romeike: Freiheit muß einschließen, seinem Gewissen folgen zu können, und in einem wirklich freiheitlichen Staat sollte das für den unbescholtenen Bürger möglich sein. Aber die Gerichte in Deutschland haben Homeschoolern ja sogar abgesprochen, daß für sie überhaupt ein Gewissenskonflikt besteht! >>
Ist Deutschland noch ein freiheitliches Land?
Romeike: „Freiheit“ gibt es hier nur so lange, wie man mit der Mehrheit geht. Tut man das nicht, dann ist es schnell vorbei damit. Das können Sie natürlich nur feststellen, wenn Sie in eine solche Situation geraten, sonst merkt man das nicht. Bildungsfreiheit gibt es in Deutschland auf jeden Fall keine!
Also machen sich die Deutschen falsche Vorstellungen von ihrem Land?
Romeike: Ich glaube ja. Die meisten sind sich nicht bewußt, welche Kontrolle der Staat inzwischen ausübt.
Die Familie steht laut Artikel 6 des Grundgesetzes unter besonderem Schutz.
Romeike: So sollte es sein, aber in Wahrheit wird hier Politik gegen die Familie gemacht: Es geht darum, die Kinder immer früher aus der Familie herauszulösen, sie statt dessen in Krippe oder Kita unterzubringen und später zunehmend in Ganztagsschulen zu halten. Wo bleibt da Zeit für die Familie?
Zerfällt die Familie in Deutschland?
Romeike: Stück für Stück, ja, das würde ich sagen. Was wir zum Beispiel von den Schulklassen unserer Kinder mitbekommen haben, leben immer weniger noch in einer intakten Familie.
Die Bundesregierung würde kontern: Es wird soviel für die Familie getan.
Romeike: Es kann nicht nur darum gehen, finanzielle Anreize zu geben. Kinder brauchen die Geborgenheit, die nur ihre Eltern ihnen geben können. Man darf sie nicht mehr und mehr von den Eltern trennen.
Der Augsburger Bischof Walter Mixa sprach 2007 bekanntlich von einer „sozialistischen Familienpolitik“ der CDU.
Romeike: Das Problem ist, daß wir uns gar nicht mehr dessen bewußt sind, was eigentlich fehlt, wir halten Berufstätigkeit beider Eltern, Alleinsein der Kinder, Scheidungen, Krippe und Hort etc. für normal. Ich sehe schwarz für künftige Generationen.
„Gewalt an Schulen hält man in Deutschland für normal“
Warum haben Sie 2006 Ihre Kinder von der Schule genommen?
Romeike: Unsere Tochter Lydia war damals acht Jahre alt und hatte bereits Gewalt an der Schule erlebt, da flogen Stöcke und Steine, und es wurden Messer gezogen. Sie hatte Angst, die Klasse war laut. All das schlug sich in chronischen Kopf- und Magenschmerzen nieder.
Von wem ging die Gewalt aus?
Romeike: Von Mitschülern, und wir können nicht sagen, daß es sich um ein Problem mit Zuwanderern gehandelt hat. Nein, wir waren selbst überrascht, schließlich lebten wir damals im kleinen Ort Bissingen am Rande der Schwäbischen Alb – dort, wo angeblich die Welt noch in Ordnung ist.
Konnten Sie nichts gegen die Mißstände unternehmen?
Romeike: Wir mußten erkennen, daß man solche Zustände in Deutschland inzwischen leider offenbar für normal hält – wir tun das aber nicht. Das Thema Gewalt wird von vielen Lehrern, Rektoren und Schulpolitikern totgeschwiegen. Aus eigener Erfahrung und durch die Bestätigung vieler anderer wissen wir, wie viele Eltern versuchen, dieses Thema immer wieder anzusprechen – aber sie werden nicht ernst genommen.
„Aus unseren Schulen kommen Tausende von Analphabeten“
Wenn Sie Ihre Kinder der Realität durch Heimunterricht entziehen, werden sie fürs Leben nicht gerüstet sein.
Romeike: Diese Behauptung ist ein Vorurteil gegenüber Homeschooling, das nicht der Realität entspricht. Ich sehe das so: Wenn ich einen Baum pflanze, schütze ich ihn auch zunächst vor der Witterung, bis seine Wurzeln tief genug sind. Homeschooling bedeutet nicht Weltabgeschiedenheit: Außer daß sie zu Hause lernen, wachsen unsere Kinder nämlich wie alle anderen auf – mit Freunden, Mitgliedschaft in Clubs und Vereinen, und sie unternehmen Ausflüge mit anderen Kindern. Da gibt es viel soziales Leben!
Die Schulpflicht gibt es nicht ohne Grund. Torpedieren Sie nicht eine an sich segensreiche gesellschaftliche Errungenschaft?
Romeike: Nein, denn es geht uns nicht darum, Homeschooling gegen Schulunterricht auszuspielen. Und daß Ihre Sorge unberechtigt ist, zeigt die Tatsache, daß es Heimunterricht in allen EU-Ländern gibt – außer in Deutschland. Und zwar ohne daß diese deshalb im Chaos versinken. In diesen Ländern gibt es eine Bildungspflicht, das heißt, entscheidend ist nur, daß die Kinder angemessen gebildet werden, was auch überprüft wird. Und in der Regel schneiden Kinder mit Heimunterricht genauso gut oder vielfach sogar besser ab. Ja, solche Familien sind sogar in der Regel bildungsbeflissener als der Durchschnitt.
Angeblich haben Sie auch das schlechte Bildungsniveau an deutschen Schulen kritisiert.
Romeike: Ich kann mich nicht daran erinnern, darüber gesprochen zu haben, allerdings sprechen die vergangenen Pisa-Studien für sich. Jährlich verlassen – gemäß dem Bildungsforscher Raimund Pousset – 400.000 Schüler deutsche Schulen, die nicht richtig lesen und schreiben gelernt haben. Man spricht von vier Millionen sogenannten „funktionalen Analphabeten“ in Deutschland – trotz rigoroser Schulpflicht. Inzwischen besuchen also zahlreiche Kinder unsere Schulen, ohne auch nur die wichtigsten Grundlagen vermittelt zu bekommen. Daß die Zahl der Analphabeten steigt, ist nicht die Schuld der Familien mit Heimunterricht, diese Kinder kommen aus den Schulen.
Auch andere Eltern fliehen aus dem staatlichen Schulsystem, weichen allerdings nicht auf Heimunterricht, sondern auf Privatschulen aus.
Romeike: So gesehen sind wir gar keine so kleine Minderheit. Denn diese Tendenz zeigt, daß wir mit unserer Problemanalyse offenbar wirklich nicht falsch liegen, wir wählen nur eine andere Lösung. >>
Der deutsche Generalkonsul für den Südosten der USA hat in der Frage Ihres Falles Deutschland gegenüber der „Washington Post“ genau mit diesem Hinweis verteidigt: Bei uns gebe es eine Vielzahl von Privatschulen – sicher auch eine geeignete für die Romeikes.
Romeike: Privatschule – das hört sich immer so an, als ob dort alles in Ordnung sei, aber dem ist nicht so. Leider existieren diese Zustände auch an Privatschulen. Außerdem sind gute Privatschulen meist teuer und überfüllt. Und wir haben ja zunächst nicht daran geglaubt, daß es je so schlimm kommen würde. Wir hatten gehört, daß man Homeschooler in Baden-Württemberg in Ruhe läßt, und dachten, wenn klar ist, daß wir unsere Kinder zuverlässig bilden, ist sowieso alles in Ordnung. Selbst als wir die ersten Probleme bekamen, haben wir uns im Traum nicht vorstellen können, daß der Staat tatsächlich bereit ist, gesunde Familie zu verfolgen, zerstören und zu vertreiben.
Andere Eltern weichen ins Elsaß oder Österreich aus, von der Schwäbischen Alb aus näher als Berlin.
Romeike: Wir sollten in Deutschland, wie die anderen europäischen Länder auch, Bildungsfreiheit haben, dann müßte niemand aus diesem Grund seine Heimat verlassen.
War die „Flucht“ in die USA nicht auch ein provokativer Akt? Hätten Sie nicht ganz normal dorthin auswandern können?
Romeike: Wir hätten anders keine Einwanderungserlaubnis bekommen können – und wir mußten weg: In Deutschland drohte uns wie allen Homeschooling-Familien der Entzug des Sorgerechts, finanzieller Ruin und Gefängnis. Nein, wir waren am Ende wirklich auf der Flucht!
„Wer an Jesus Christus glaubt, gilt bereits als ‘Fundamentalist’“
In Günther Jauchs Sendung „Stern-TV“ haben Sie letzte Woche auch von Ihren christlichen Motiven gesprochen.
Romeike: Es ist richtig, wir sind bekennende Christen. Und wir mußten leider feststellen, daß es mittlerweile offenbar einen eklatanten Schwund christlicher Werte an den deutschen Schulen gibt.
„Spiegel Online“ nennt Sie „Fundi-Christen“ und zitiert belustigt Ihren Satz, an deutschen Schulen „geht es mehr um Hexen und Vampire als um Gott“.
Romeike: Ich kann mich nicht erinnern, das so gesagt zu haben. Aber es stimmt, wir halten christliche Werte in der Erziehung für grundlegend wichtig und lehnen das Fördern von Egoismus, Durchsetzung per Ellenbogen und Respektlosigkeit gegenüber Erwachsenen, wie wir es in den Schulbüchern unserer Kinder gefunden haben, ab. Und ich glaube, daß letzteres mit dafür verantwortlich ist, daß die Dinge an unseren Schulen heute so sind, wie sie sind. Man versucht uns jetzt als „Extreme“ darzustellen. Das ist aber ein weiteres Zeichen für uns, daß in Deutschland Familien, die sich offen zu Jesus Christus bekennen, heute bereits als „Fundamentalisten“ im negativen Sinn gelten. Ich möchte jedoch abschließend nochmals betonen, daß der immer wieder zitierte „religiöse“ Aspekt nicht direkt der ursprüngliche Grund für unser Homeschooling war. Für unsere Kinder war die Schule nicht die Umgebung, in der sie gut und sicher lernen konnten. Das allein war für uns und ist für viele andere Grund genug, für Homeschooling als erlaubte Bildungsalternative in Deutschland zu kämpfen.
Uwe Romeike floh 2008 mit seiner Frau und ihren fünf Kindern aus Deutschland in die USA und stellte dort Antrag auf Asyl. Nun hat ein amerikanisches Gericht die Romeikes als in Deutschland „um ihrer Meinung willen … politisch verfolgt“ anerkannt und der Bundesregierung attestiert, „ein grundlegendes Menschenrecht zu verletzen“, indem sie diese Homeschooler als Mitglieder einer „gesellschaftlichen Sondergruppe … zu unterdrücken“ versuche.
Der Fall löste ein fast weltweites Presseecho aus. Mit Unterstützung des deutschen Netzwerks Bildungsfreiheit und der amerikanischen Home School Legal Defense Association gelang es dem 1970 in Ostfriesland geborenen Musiklehrer, in Morristown/Tennessee Fuß zu fassen.
JF 7/10