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Marc Jongen, ESN Fraktion

„Europa braucht Menschen mit festen Überzeugungen“

„Europa braucht Menschen mit festen Überzeugungen“

„Europa braucht Menschen mit festen Überzeugungen“

 

„Europa braucht Menschen mit festen Überzeugungen“

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Cato, Palmer, Exklusiv

Herr Minister, Homosexuellen-Verbände in ganz Europa haben versucht, das Ende letzter Woche bekanntgewordene Papier des Vatikans zum Umgang mit Homosexualität in der Kirche – das allerdings nichts Neues enthält, wie die „FAZ“ zutreffend festgestellt hat – zu skandalisiern. Zahlreiche Medien zeigten sich entsprechend empört. Vor gut einem Jahr sind Sie selbst ins Visier einer solchen Kampagne geraten. Am 30. Oktober 2004 sahen Sie sich schließlich gezwungen, auf Ihre Kandidatur für das Amt des EU-Kommissars für Justiz, Freiheit und Sicherheit zu verzichten. Sie haben danach geäußert, Sie seien „Opfer einer Ideologie“ geworden. Buttiglione: Ich habe gesagt, daß ich als Katholik persönlich Homosexualität als „Sünde“ betrachte, gleichzeitig aber bekräftigt, daß der Staat natürlich kein Recht hat, Bürger aufgrund ihrer geschlechtlichen Orientierung zu diskriminieren. Ich unterscheide zwischen persönlichem Gewissen und politischer Position. Solange ich das konsequent tue, ist meine persönliche Überzeugung doch wohl meine Sache, denn auch wenn wir Politik machen, verzichten wir nicht auf das Recht, moralische Überzeugungen zu haben. Nun gibt es aber Leute, die der Ansicht sind, wenn ein Mensch an etwas unbedingt glaubt, könne er kein guter Demokrat und kein guter Europäer sein. Die Absage an die Wahrheit, das Leugnen jeder überzeitlichen Verbindlichkeit, kann aber nicht die Basis für ein neues Europa sein. Im Gegenteil, Europa braucht Menschen mit festen Überzeugungen. Die Ideologie des absoluten Relativismus kann Europa nur zum Scheitern bringen. Sind sich die Träger dieser Anschauung bewußt, daß sie eine Ideologie vertreten? Buttiglione: Nein, diese Ideologie liegt sozusagen in der Luft. Sie ist im Unterschied zu klassischen Ideologien kaum als solche zu erkennen, denn sie funktioniert viel einfacher: Sie relativiert schlicht alle Werte. Die einzigen Werte, die sie noch gelten läßt, sind die vitalen Werte, die Werte der unmittelbaren Lebendigkeit. T.S. Eliot spricht von der Gier, die alleine noch bleibt, wenn Gott nichts mehr gilt: Geldgier, Machtgier und geschlechtliche Gier. Was glauben diese Leute, was sie tun? Buttiglione: Sie haben auf die Suche nach der Wahrheit verzichtet. Und sie zeigen sich irritiert, wenn sie auf Menschen treffen, die auf diese Suche nicht verzichtet haben. Das läßt bei ihnen einen unterschwelligen Zweifel entstehen, der sie quält. „Es ist die Frucht der Ideologie des Antiautoritären“ Das 19. und 20. Jahrhundert gelten als die Epoche der Weltanschauungen in Europa. Stammt diese Ideologie auch aus dieser „klassischen Periode“, oder handelt es sich um eine Weltanschauung „neuen Typs“? Buttiglione: Es ist keine hohe Staats- und Geschichtsideologie wie die klassischen politischen Weltanschauungen, sie hat kein „wissenschaftlich“ oder weltanschaulich formuliertes System. Man muß nicht Bücher lesen und sie studieren, um sie sich anzueignen. Sie gruppiert sich nicht um einen großen anmaßenden Gedanken, sondern besteht allein in der Verpönung und Abwesenheit aller Verbindlichkeit. Genuß ist das einzige, was bleibt. Ihre moralische Formel lautet: „If it feels good, it is good.“ („Ist es angenehm, dann ist es auch moralisch gut.“) Aber das Leben belehrt uns eines Besseren: Vieles, was angenehm ist, ist schädlich, für unseren Körper wie für unsere Seele. Das muß man berücksichtigen, wenn man ein menschliches Leben führen will. Handelt es sich um die Ideologie der Achtundsechziger? Buttiglione: Ja, es ist die Frucht ihrer Ideologie des Antiautoritären: „Es ist verboten, zu verbieten!“ Wieviel Erbe des liberalen Laissez faire steckt in diesem antiautoritären Nihilismus? Buttiglione: Die Frage ist, was „liberal“ heißt. Eigentlich ist ein Liberaler keineswegs ein Mensch, der auf die moralische Dimension verzichtet. Er unterscheidet sie lediglich von der politischen: Ich habe meine moralische Meinung, aber ich weiß, daß diese im politischen Bereich nicht zur Geltung kommen kann – weil die Methode meiner Politik die Freiheit ist. Wenn ich diese Methode habe, werde ich es nicht als Anzweifelung meiner religiösen Überzeugung verstehen, dem anderen seine Freiheit zu lassen. Denn ich weiß, daß Gott ihm auf einem Wege begegnen will, der über seine Sünde, seine Gewissenserforschung, seine Lebensanstrengungen führt, und ich habe nicht das Recht, mich einzumischen. In dieser Hinsicht sehe ich mich selbst als Liberalen. Das ist der alte Liberalismus. Aber es gibt auch einen neuen Liberalismus, der an nichts mehr glaubt und behauptet, daß nicht der Unterschied zwischen Politik und Moral, sondern der moralische Relativismus die einzig mögliche Begründung der Demokratie ist. Wenn aber Freiheit nicht nur Freiheit, sondern Nihilismus ist, wenn sie bedeutet, daß es keine Wahrheit gibt, warum sollte ich mich dann nicht korrumpieren lassen? Warum sollte ich nicht Gewalt ausüben, lügen, betrügen und andere ausnutzen, um meine Interessen durchzusetzen? Diese sogenannten „Liberalen“ haben die Lehre des 20. Jahrhunderts nicht verstanden. Die Nationalsozialisten haben die Juden nicht deshalb ermordet, weil sie den Juden ihre Weltauffassung aufzwingen, sondern weil sie ihre Interessen durchsetzen wollten. Das 17. und 18. Jahrhundert war das Zeitalter der Religions-, das 19. und 20. Jahrhundert das Zeitalter der Interessenkonflikte. „Die ‚Leiche‘ des Kommunismus korrumpiert das kulturelle Leben“ Kommunismus und Nationalsozialismus folgten allerdings nicht den rationalen Zwecken der politischen Ökonomie, sondern haben stets große Energien auf unnütze utopische Ziele verwandt. Buttiglione: Das ist richtig, innerhalb ihrer Weltanschuungssysteme folgten sie dem Primat der Ideologie. Dennoch, die Ursache für die großen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts waren eher die Interessen als die Überzeugungen. Die Ideologien haben es ermöglicht, die eigenen Interessen durchzusetzen, ohne irgendwelche Rücksichten auf ewige Werte nehmen zu müssen, die in der traditionalen europäischen Welt durch Standesethos und Religion eine einhegende Funktion hatten. Die Ideologien wurden „erfunden“, um die Menschen bei ihrer Interessendurchsetzung von jeglicher Hemmung zu befreien und sich dennoch moralisch gerechtfertigt fühlen zu können. Einer der Wortführer der Kampagne gegen Sie war der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit, 1968 als „der rote Danny“ bekannt geworden. Was ist er heute? Noch ein Sozialist oder eine Nihilist? Buttiglione: Der Kommunismus ist vorbei, aber die „Leiche“ des Kommunismus ist immer noch da und korrumpiert unser kulturelles Leben. Marx hat gesagt, daß es keine Wahrheit gibt – mit Ausnahme der Wahrheit, die vom Proletariat erkannt werde. Lenin hat das abgerundet: Nicht die Proletarier im allgemeinen, sondern die Avantgarde der kommenden proletarischen Herrschaft, also die Partei, sei allein zur Erkenntnis dieser Wahrheit fähig. Im Zuge der Auflösung des Kommunismus haben die Linksintellektuellen eingestanden, daß der Kommunismus falsch war. Aber sie waren zu diesem Zugeständnis nur unter der Bedingung bereit, daß auch alle anderen auf ihre Wahrheit verzichten müssen. Der Nihilismus also als die in sich gebrochene Ideologie der Achtundsechziger? Buttiglione: Wenn man einen Namen finden wollte, müßte man sie „Dekonstruktionisten“ nennen. Und wenn man einen Vordenker benennen wollte, müßte man Jacques Derrida nennen. Für jemanden, der aus dem Marxismus kommt, ist diese Lösung beinahe eine Notwendigkeit, aber die, die nie Marxisten gewesen sind, haben keinen Grund, ihrer Wahrheit abzuschwören. Dennoch verlangen es die Ex-Marxisten von ihnen, nicht nur, um sich nicht ihr Scheitern eingestehen zu müssen, sondern auch, um es vor der Welt und vor sich selbst als „Weiterentwicklung“ ihrer politischen Persönlichkeit zu tarnen. Viele Zeitungsleser glauben, Sie seien damals mit ihrer persönliche Glaubensüberzeugung „hausieren“ gegangen. Tatsächlich aber hat der Ausschuß Sie in seiner Befragung mit dem Wort „Sünde“ so lange „traktiert“, bis Sie es „endlich“ selbst in den Mund genommen haben. Buttiglione: Es gibt offensichtlich eine Art Inquisition in Straßburg: Die wollen wissen, was ein Kandidat für das Amt eines EU-Kommissars über Homosexualität denkt. Dabei spielt das keine Rolle, denn ein Kommissar sollte nur über Politik sprechen, nicht über seine persönlichen Ansichten. Diese Inquisition hat nach etwas gefragt, was sie als politischen Ausschuß gar nichts angeht! Der Ausschuß hat sich nicht nur mit meinem politischen Profil befaßt, sondern seine Kompetenzen überschritten und ist in meine Privatsphäre eingedrungen, um mein Gewissen zu kontrollieren. Das ist der Anspruch einer neuen Staatsreligion, einer atheistischen Staatsreligion samt Gewissenspolizei! Haben Sie versucht, sich gegenüber Cohn-Bendit persönlich zu erklären? Buttiglione: Ja, aber am Ende wurde eine politische Entscheidung getroffen. Die Ausschußmitglieder wußten sehr genau, was sie taten. Sie hatten keinen Zweifel, daß ich politisch nichts gegen Homosexuelle habe. Aber sie haben eben dieses Projekt, nämlich die Homosexualität in jeder Beziehung mit der Heterosexualität gleichzustellen. Die Frage ist, sollte ein junger Mensch während der sexuellen Reife homosexuellen Einflüssen ebenso ausgesetzt werden wie heterosexuellen? Ich halte das für falsch. Die Ehe, also die Verbindung von Mann und Frau, hat eine gesellschaftliche Bedeutung, und ohne Kinder stirbt die Nation. Diese Bedeutung kann nicht ohne fatale Folgen relativiert werden, etwa durch die Gleichstellung der Homosexualität. Deshalb ist die auf Kinder gegründete Familie auch durch die Verfassung besonders geschützt. Ging es Ihren Gegnern wirklich um die „Rechte der Homosexuellen“? Buttiglione: Nein, denn das, worum es diesen Leuten geht, hat kaum etwas mit dem Leben der Homosexuellen zu tun. Es geht diesen Leuten allein darum, die gesellschaftliche Stellung der Familie zu unterminieren. Diese Leute sind von dem Begriff „Normalität“ obsessiv ergriffen. Sie stellen sich vor, daß es derzeit keine zulässige Normalität gibt. Und ihre Idee ist, daß „Normalität“ dann erreicht ist, wenn die wahre Normalität überwunden ist. Ich finde, das ergibt keinen Sinn, aber sie wollen eine neue Welt darauf aufbauen. Es beginnt mit einer vorgeblich freiheitlichen Haltung: „Ich tue, was ich will! Kein Begriff der Normalität kann mir aufgezwungen werden!“ Und es endet mit einer Staatsideologie: „Der Staat muß festlegen, was (neue) ‚Normalität‘ ist, und der Staat muß proklamieren, daß unsere neue Haltung die normale ist.“ Sie betreiben zu diesem Zweck unter anderem eine Interpretation der europäischen Verfassung, die es ermöglichen soll, die Homosexuellen-Ehe allen EU-Ländern aufzuzwingen. Umerziehung durch die EU? Buttiglione: Das ist ihr strategisches Ziel, das Problem ist nur, die Verfassung gibt eigentlich die Mittel dazu nicht her. Aber sie versuchen das durch weitausgelegte Interpretationen zu überspielen. Doch Europa ist gottlob zu groß, um ihr williges Instrument zu sein. Doch der Widerstand dagegen … Buttiglione: … ist schwach. Als ich vor einem Jahr schließlich aufgrund des Drucks meinen Verzicht auf das Amt des Kommissars erklärt habe, hatte ich das Gefühl, der letzte Christ in Europa zu sein. Erst später habe ich entdeckt, wieviel Solidarität es mit mir in der Welt gab. Besonders danke ich dem damaligen Kardinal Ratzinger, Kardinal Wetter, Kardinal Meisner und auch dem Patriarchen von Athen. Aber auch den vielen Orthodoxen und Protestanten, die sich mit mir solidarisch erklärt haben. „Aufpassen, daß wir aus Europa nicht verdrängt werden“ Was ist mit Angela Merkel oder Hans-Gert Pöttering? Buttiglione: Angela Merkel hatte mich angerufen, ebenso wie Edmund Stoiber. Die ganze Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP/ED) hat den Kampf mit großer Überzeugung unter der Führung von Fraktionschef Pöttering geführt. Offenbar doch nicht mit genug Einsatz. Buttiglione: Wir hatten keine Mehrheit, beziehungsweise hätten diese nur mit der Hilfe von antieuropäischen Gruppen im Parlament erreicht. Das aber wollten wir auch nicht. Warum hat der Bürger von diesem angeblich so engagierte Kampf der europäischen Christdemokraten kaum etwas mitbekommen? Buttiglione: Ich wollte von der Kandidatur zurücktreten, aber Hans-Gert Pöttering bat mich weiterzukämpfen. Ich wollte aber nicht, daß der Eindruck entsteht, daß ich meine persönlichen Ambitionen über die Interessen Europas stelle, nämlich eine funktionierende Kommission zu haben. Viele Christen hätten gerade in Ihrem Beharren die beste Vertretung der Interessen Europas gesehen, während Ihr Rücktritt ihnen als ein Nachgeben eben aus persönlichem Interesse – nicht aufgerieben zu werden – erschien. Buttiglione: Ich weiß, daß der Vorgang Europa vielen Christen entfremdet hat – das ist fatal. Ich weiß, daß wir Europa damit im Grunde natürlich den Linken und neuen „Liberalen“ und ihrem Nihilismus überlassen haben. Dabei waren es die Christdemokraten, die das neue Europa geschaffen haben! Heute müssen wir aufpassen, daß wir aus Europa nicht verdrängt werden. Sind Sie mit der gleichen politischen Kraft verteidigt worden, mit der Sie angegriffen wurden? Buttiglione: Nicht alle Abgeordneten waren so engagiert wie Hans-Gert Pöttering. Soll heißen, nein? Buttiglione: Die EVP/ED ist eine große Partei, nicht alle Abgeordneten sind gleicher Meinung. So ist das eben. Haben die Kollegen, die sich – mit welcher Intensität auch immer – für Sie eingesetzt haben, für ihren Kollegen Rocco Buttiglione gekämpft, oder haben sie erkannt, daß es eigentlich um die christlich-abendländischen Werte geht, für die Sie stehen? Buttiglione: Das kann ich nicht sagen. Ich kann nur sagen, daß ich den Kampf um christliche Werte nicht ausgerechnet in dieser Situation führen wollte, in der der Eindruck entstehen konnte, ich wäre jemand, der sie für seine politischen Ambitionen zu opfern bereit ist. Sie haben gerade selbst darauf hingewiesen, wie sehr Ihr Rückzug vielen Christen Europa entfremdet hat! Buttiglione: So haben wir wenigstens eine offizielle Abstimmungsniederlage über die Stellung der christlichen Werte im Europa von heute vermieden. Im Klartext: Vor den Christen verschleiert, wie schlecht es tatsächlich um die Stellung der christlichen Werte in Europa steht! Buttiglione: Wir wären sehenden Auges in eine Abstimmungsniederlage gegangen. Ist auf dem Feld der Werte die Kapitulation nicht schlimmer als die Niederlage? – Stellen Sie sich vor, Jesus hätte vor der „Herausforderung“ kapituliert, um Gott die öffentliche „Niederlage“ von Golgatha zu ersparen. Buttiglione: Nachdem ich zurückgetreten war, hatte ich endlich die Gelegenheit, die Sache aufzuklären. Zuvor war alles, was ich gesagt habe, in der Hitze der politischen Auseinandersetzung verfälscht worden. Zahlreiche Medien haben meine christliche Position völlig verzerrt dargestellt. „Böswillige, Ahnungslose und Lobbyisten“ Zum Beispiel? Buttiglione: Viele Zeitungen hatten mir unterstellt, ich würde mein persönliches Interesse über das der EVP/ED stellen. Oder es wurde behauptet, ich sei nicht nur „gegen Homosexuelle“, sondern hätte auch noch die alleinstehenden Mütter geschmäht. Das Gegenteil war der Fall. Alles wurde verfälscht! Sehen Sie Parallelen zum Fall Hohmann? Buttiglione: Tut mir leid, ich habe von diesem Fall noch nichts gehört. Warum haben die Medien so verzerrt berichtet? Buttiglione: Nicht alle Medien, aber viele. Der Grund? Journalisten sind Menschen. Unter ihnen gibt es Anständige ebenso wie Böswillige. Und vor allem gibt es viele Ahnungslose, denen etwas eingeredet wird. Es hat eine regelrechte Lobby gegen mich gearbeitet, die mit falschen Dokumenten operiert hat. Wer war diese Lobby? Buttiglione: Interessenvereinigungen mit Akkreditierung bei der Uno. Einigen dieser Gruppen wurde übrigens später ihr Status aberkannt, weil sich herausstellte, daß sie Kontakte zu Pädophilenkreisen haben. Da war es aber für mich schon zu spät. Diese Lobby hat viel Geld und ist gut organisiert, es war für mich unmöglich, persönlich alle die Journalisten aufzuklären, die von ihr zuvor massenhaft irregeleitet worden waren. So sind eben die Machtverhältnisse. Woher kommt dieses Geld? Buttiglione: Ich weiß es nicht. – Glauben Sie mir, ich wollte wirklich Kommissar werden, ich hatte mir diesen Posten erträumt. Ich war zunächst in Italien Europaminister. Ich hätte bei der Regierungsbildung 2001 ein wichtigeres Ressort als dieses bekommen können. Aber ich wollte nicht, ich wählte diesen Fachbereich, weil ich nach Europa wollte. Warum? Buttiglione: Ich bin Christdemokrat aus tiefer Überzeugung. Europa ist der alte Traum der Christdemokraten. Wir haben – ich sagte es schon – Europa geschaffen, als Nationalisten und Internationalisten noch nichts davon wissen wollten. Ihr Traum ist zerplatzt. Buttiglione: In Schottland gibt es das Geschlecht der Grafen von Gordon. Einen der Vorfahren wollte man zwingen, seinem Glauben abzuschwören. Er antwortete: „Es ist leichter, mein Haupt von meinem Leib zu trennen, als mein Herz von meinem Herrn.“ In meinem Fall war es – wenn Sie mir diesen saloppen Vergleich erlauben – für mich einfacher, mein Gesäß von meinem Stuhl zu trennen, als mein Herz von meinem Herren. Ich bedaure, daß mir diese Möglichkeit genommen wurde, aber ich schätze mich dennoch glücklich, daß ich meiner Überzeugung treu geblieben bin und keine Kompromisse gemacht habe, nur um Kommissar zu werden. Sie haben von der „linken Hegemonie“ in Europa gesprochen. Vorhin sind Sie der Frage, ob die Christdemokraten und Konservativen die Schwungkraft und die Breite dieser Herausforderung erkannt haben, ausgewichen. Buttiglione: Ich glaube nicht, daß sie das haben. Vielleicht im Fall Buttiglione, aber ansonsten: Nein. Zuvor gab es stets eine stille Allianz von Sozialisten und Christdemokraten in Europa. Im Fall Buttiglione haben die Linken diesen ungeschriebenen Vertrag gekündigt. Ich hoffe, daß durch meinen Fall bei den Christdemokraten das Bewußtsein für die Herausforderung durch den verhängnisvollen linken Hegemonieanspruch gewachsen ist. Gerade angesichts dieser Gefahr freue ich mich um so mehr, daß in Deutschland nun Angela Merkel die Kanzlerschaft übernommen hat. Inwiefern? Buttiglione: Weil die Regierungsübernahme durch Angela Merkel einen ungeheuren Einfluß auf die Entwicklung Europas haben wird. Nämlich? Buttiglione: Europa braucht eine Führung. Frankreich und Deutschland sind die Führungsmächte in der EU. Deshalb ist es wichtig, daß Deutschland eine verantwortungsbewußte und klar proeuropäische Führung hat. In den letzten Jahren haben Frankreich und Deutschland den Fehler gemacht, so zu tun, als seien sie allein die EU. Dieser Hochmut war schlecht für Europa. Europa braucht Teamgeist! Unter Angela Merkel wird diese christdemokratische Tugend nun zurückkehren. Schon unter Helmut Kohl blieb – obwohl angekündigt – die geistig-moralische Wende hin zu christdemokratischen Werten aus. Frau Merkel hat diese dagegen noch nicht einmal angekündigt. Buttiglione: Mir scheint, daß Helmut Kohl Deutschland sechzehn Jahre lang eine sehr gute Regierung beschert hat. Immerhin hat Ihr Vaterland in dieser Zeit seine Einheit wiedererlangt! Unter Kohl setzte sich die Entchristlichung Deutschlands ungehindert fort, nahmen „Individualismus“, Hedonismus, Anspruchsdenken und nihilistischer Relativismus weiter zu. Kohl selbst teilte diese Haltung vielleicht nicht, aber er hat es versäumt, den Kampf aufzunehmen. Und durch die Einführung des Privatfernsehens oder Legalisierung der Abtreibung zum Beispiel hat er ihr massiv Vorschub geleistet. Buttiglione: Die Politik kann nicht alles richten. Sie sprechen von gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen. Keiner erwartet Wunderdinge, aber, wie Willy Brandt gesagt hätte, „man hat sich bemüht“. Buttiglione: Ich sehe seine Bilanz nicht so negativ. Helmut Kohl war der letzte europäische Regierungschef mit einer Vision von Europa. Wieso hat sich diese Vision – die er persönlich vielleicht gehabt haben mag – seinem Volk nie mitgeteilt? Buttiglione: Ist das so? Ich weiß es nicht, fragen Sie Helmut Kohl. Sie dürfen nicht vergessen, es ist nicht selbstverständlich, daß der Kommunismus so sang- und klanglos verschwunden ist. Es ist auch nicht selbstverständlich, daß der politische Übergang in Osteuropa so friedlich verlaufen ist. Osteuropa hätte auch zu einem großen Bosnien-Herzegowina oder Tschetschenien werden können. Helmut Kohl hat wesentlichen Anteil daran, daß das verhindert worden ist. Das sollten wir ihm danken. Natürlich haben auch andere eine wichtige Rolle gespielt, vor allem Papst Johannes Paul II., denn ohne den Einfluß der Christen wäre der Kommunismus nicht so leicht destabilisiert worden, und vor allem hätten die Völker nicht auf Rache verzichtet. Warum hat man Helmut Kohl oder Angela Merkel nie so reden gehört wie Sie: so kulturbewußt und mit soviel Bewußtsein für die geistigen Herausforderungen der Zeit und Bereitschaft, sich diesen zu stellen? Buttiglione: Weil Helmut Kohl einer anderen Generation angehört, eine andere Lebenserfahrung hat. Ich habe viel von Helmut Kohl gelernt. Unter anderem, daß die Politiker viel weniger in ihren Händen haben, als die Bürger glauben. Verstehen Sie dennoch, daß viele europäische Bürger damit unzufrieden sind, daß die Christdemokraten seit dreißig Jahren ständig in der Defensive sind? Buttiglione: Die Europapolitik der Christdemokraten war bis vor zehn Jahren ausgesprochen erfolgreich. Außenpolitisch ja, aber innenpolitisch ist man seit 1968 im Niedergang begriffen, Sie haben doch selbst von einer „linken Hegemonie“ in Europa gesprochen. Buttiglione: Doch denken Sie auch einmal an die andere Seite, denken Sie zum Beispiel an die Seele der europäischen Jugend, in die das Beispiel und das Zeugnis Papst Johannes Pauls II. tief eingedrungen ist. Es stimmt, daß es viel Finsternis gibt, aber auch viel Licht. Einen Sieg der einen oder der anderen Seite wird es erst am Ende der Zeiten geben. Sie werden allerdings zugeben, daß es Zustände gibt, die finsterer sind als andere. Etwa die Epochen im 20. Jahrhundert, in denen rassische oder soziale Minderheiten ermordet wurden. Für wie finster halten Sie eine Epoche, in der noch mehr Menschen durch Abtreibung getötet werden? Buttiglione: In der Tat, dagegen muß man ohne Unterlaß kämpfen. So wie gegen Nazismus und Kommunismus oder wie gegen Umweltverschmutzung und Schwarzarbeit? – Also mit oder ohne Anspruch auf eine wirkliche Beendigung des Zustandes? Buttiglione: Die Abtreibung ist ein inakzeptabler Zustand. Aber das Problem ist viel größer, dazu gehört auch die Gefahr des Klonens. Und da haben wir schon einige Erfolge erzielt. Weil gegen das Klonen Allianzen mit der Linken geschlossen werden können. In der Frage der Abtreibung ist das nicht möglich. Ergo wird sich am „Europa der Abtreibung“ nichts ändern. Buttiglione: Eine sehr bedrückende Aussicht. Für die die Christdemokraten, die die Abtreibungsfrage im Wahlkampf meist gar nicht mehr thematisieren, mitverantwortlich sind. Buttiglione: Ich weiß, daß diejenigen, die die Abtreibung ablehnen, in Europa politisch in der Minderheit sind. Aber was falsch ist, bleibt auch dann falsch, wenn es politisch verwirklicht wird. Wir brauchen einen langen Atem. „Es herrscht Aufruhr in den Seelen“ Sie sind nicht nur Europaminister der Regierung Berlusconi, sondern auch Vorsitzender der italienischen christdemokratischen Partei UDC. Buttiglione: Italien braucht einen noch viel stärkeren christlich-demokratischen Einfluß, als das heute der Fall ist. Denn wir leben in einem Zeitalter, in dem alles entweiht worden ist, neue Werte aber vergeblich versprochen wurden. Ich glaube, in Wahrheit herrscht in unserer Gesellschaft – bei aller äußeren Sicherheit, in der wir leben – eine große innere Verunsicherung, ja man könnte sagen ein gewisser Aufruhr in den Seelen. Die Menschen haben keinen Halt, keine Führung, keine Tröstung. Ja, viele Menschen hegen heute noch den Haß gegen die christlichen Werte. Aber ich glaube, vor allem deshalb, weil sie ihnen vergällt worden sind. Eigentlich sehnen sie sich geradezu danach. Würden Sie Christdemokratie und Konservativmus als Synonyme verwenden? Buttiglione: Sicher sind Christdemokraten wertkonservativ. Aber es gibt auch andere Arten des Konservatismus, die eher bestimmte gesellschaftliche Formen oder Interessen betonen. Zum Beispiel? Buttiglione: Ich nenne ein Beispiel aus der italienischen Geschichte. Der Philosoph Joseph de Maistre hat die Französische Revolution bekanntlich als großen Bruch mit dem Christenum betrachtet. Deshalb hat er eine Restauration des Christentums verlangt. 1815 sind in Savoyen die alten Könige auf den Thron zurückgekehrt. Die Jugend, die so sehr auf die Restauration gehofft hatte, war aber sehr bald unzufrieden, weil sie erkannte, daß die Savoyer zwar die alten Sitten und Moden zurückgebracht hatten, aber nicht den christlichen Geist. Es waren nur leere Formeln. Es entstand eine neue Philosophie, die des „Risorgimento“, die besagte, um die alten Werte zu retten muß man neue gesellschaftliche Formen schaffen. Risorgimento ist also Wertkonservatismus, kein Strukturkonservatismus. Welche Rolle spielt die Nation für die Christdemokraten? Buttiglione: Ich halte die Idee der Nation für sehr wichtig. Ich liebe mein Vaterland sehr, und wenn einer sagt, er liebe Italien mehr noch als ich, dann bin ich sehr besorgt, denn dann kann das eigentlich nur eine extremistische Form der Liebe sein. Ich glaube, daß die Nation wichtig ist, aber nicht als isolierter Wert existieren sollte und zum Nationalismus werden darf. Die Nation muß an weitere Werte wie etwa den Glauben gekoppelt sein. Darin sehe ich die Aufgabe der Christdemokraten. Was ist der Kern der Christdemokratie, die Familie? Buttiglione: Nein, die Person. Es gab einen polnischen Philosophen, der diesen Kern in einem Aufsatz exakt aufgezeigt hat: Karol Wojtyla, der die Person als Individuum und als Gemeinschaftswesen beschreibt. Zu diesen Gemeinschaften gehört die Nation ebenso wie die Familie. Sie haben die Nation, die Person, die Familie erwähnt. Was ist mit Gott? Buttiglione: Die Christdemokraten machen Politik, nicht Theologie. Thomas von Aquin sagt, es gibt das absolute Absolute und das relative Absolute. Das absolute Absolute ist Gott, das relative Absolute der Mensch als Person. In der Politik beschäftigen wir uns mit diesem relativen Absoluten. Deshalb können wir auch mit Menschen zusammenarbeiten, die nicht an Gott glauben, obwohl ich deren Auffassungen nicht teile. Was passiert mit der Nation in Europa? Buttiglione: Sie ist in Europa aufgehoben. Welchen Weg soll sie gehen? Den in einen europäischen Bundesstaat oder in ein Europa der Vaterländer? Buttiglione: Das „Europa der Vaterländer“ de Gaulles dürfen Sie nicht so absolut verstehen. Dieses Motto bedeutete damals nur: „Wir sind nicht bereit, uns schon heute mit den anderen zu verbinden.“ Also ein langfristiges Aufgehen in einem Bundesstaat à la Helmut Kohl? Buttiglione: Warum betonen Sie den Gegensatz so sehr? Europa ist selbstverständlich das Europa der Nationen. Wie kann ich Europäer sein, ohne Italiener zu sein? „Die Nation ist durch einen Akt der Verzeihung entstanden“ Weil in Deutschland die Vorstellung herrscht, um Europäer zu sein, dürfe man nicht mehr länger Deutscher sein. Buttiglione: Das ist Unsinn, lassen Sie sich nicht in solch eine erbitterte Dialektik zwingen. Was ist die Nation? Alle unsere Nationen sind durch einen Akt der Verzeihung entstanden. Das ist ihr Wesen. Verschiedene Stämme haben sich die früheren Erbitterungen verziehen – sonst hätten sie sich gar nicht zusammenfinden können. Es ist falsch und eine Sünde gegen Europa, die Nation in Widerspruch zu Europa zu bringen. Viele Bürger fürchten dennoch den europäischen Superstaat. Buttiglione: Darüber sollte man nicht sprechen. Bitte? Buttiglione: Es gibt Fragen, über die sollte der Politiker nicht sprechen, sonst geht alles schief. Diese Intransparenz ist aus demokratischer Sicht völlig inakzeptabel! Buttiglione: Ich werde Ihre Frage beantworten, wenn Sie meine Frage beantworten. Ist die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika des Jahres 1787 die Verfassung eines Staatenbundes oder eines Bundesstaates? Heute wissen wir, es ist ein Bundesstaat geworden. Damals ließ sich das nicht beantworten. Manche Dinge entscheidet einfach die Geschichte. Deshalb braucht Europa nicht eine Verfassung, die uns festlegt, sondern eine, die uns die Freiheit gibt, uns zu entwickeln und die so oder eben auch so funktionieren kann. Das ist weise, aber nicht politisch, deshalb ist dieses Konzept politisch nicht zumutbar. Buttiglione: Die Idee des Staates ist in die Krise geraten. Wir werden in Zukunft in einer Welt leben, in der es viele „Souveränitäten“ gibt und in der wir in verschiedenen Ordnung leben, ohne daß eine davon sich als absolut erklären kann. Der israelische Historiker Martin van Creveld beschreibt diesen Prozeß als ein „neues Mittelalter“. Buttiglione: Das kommt dem Sachverhalt sehr nahe. Aber das bedeutet nicht das Ende des Nationalstaates. Er ist nur nicht mehr der Nationalstaat des 19. und 20. Jahrhunderts. Er wird aber gerade auch deshalb weiterbestehen, weil er sich einbettet. Die Sorge für Europa ist also auch die Sorge für den Nationalstaat. Wenn Sie sich mit diesem veränderten Selbstverständnis abfinden, dann können Sie mit Blick auf die Gegner des Nationalstaates beruhigt sein. Es wird die Nation noch lange geben. Prof. Dr. Rocco Buttiglione ist Kultusminister Italiens und Vorsitzender der italienischen Christdemokratischen Partei UDC. Der Jurist und Historiker wurde im Oktober 2004 europaweit bekannt, nachdem ihn eine Mehrheit von Linken und Liberalen im „Ausschuß für bürger-liche Freiheiten“ des Europäischen Parlaments als EU-Kommissar für Inneres und Justiz wegen angeblich homosexuellenfeindlicher Äußerungen abgelehnt hatte. Der überzeugte Katholik, der als „Philosophiefreund“ des verstorbenen Papstes Johannes Paul II. galt und den Journalisten als „letzten Erben der europäischen Christdemokratie“ apostrophieren, lehrte Philosophie und Politikwissenschaft an verschiedenen europäischen Universitäten und gründete 1986 die Internationale Philosophische Akademie in Liechtenstein. Ursprünglich Funktionär der Democrazia Cristiana (DC), gründete er nach deren Zerfall im Zuge des Untergangs des italienischen Nachkriegsparteiensystems Anfang der neunziger Jahre 1994 nach deutschem Vorbild die Cristiani Democratici Uniti (CDU), die sich allerdings nach Fusion mit weiteren christ-demokratischen Formationen aus der Konkursmasse der DC in Unione dei Democratici Cristiani e Democratici di Centro (UDC) umbenannte. Buttiglione war von 1999 bis 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments und von 2001 bis 2005 Minister für europäische Angelegenheiten in Rom. Geboren wurde er 1948 im süditalienischen Gallipoli. Fotos: Rocco Buttiglione bei einem Vortrag (2004): „Ich hatte das Gefühl, der letzte Christ in Europa zu sein“ Parteichefs Bossi, Fini, Berlusconi, Buttiglione und Marco Follini (CCD-UDC): „Die Nation muß an Werte wie den Glauben gekoppelt sein“ weitere Interview-Partner der JF

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