Frau Dr. Mustafa, bereits in Januar sagte der Nahostexperte Peter Scholl-Latour in einem Interview mit dieser Zeitung (JF 3/03) voraus, die in Bagdad einrückenden US-Truppen könnten zunächst mit Jubelrufen begrüßt werden, dennoch drohe den Amerikanern eventuell ein Terrorkrieg im Irak. Während in der Tat Bewohner der Hauptstadt GIs mit Lobrufen empfangen, fallen bereits einige Straßen weiter US-Soldaten Bombenanschlägen zum Opfer. Wie empfindet die Mehrheit der Iraker die Eroberung Bagdads nun tatsächlich? Mustafa: Unterschätzen Sie nicht, wie sehr die Iraker unter der Herrschaft Saddam Husseins gelitten haben. Es ist nur natürlich, daß sie sich im Moment des Sturzes des Diktators befreit fühlen. Die meisten Europäer machen sich nicht klar, unter welchen Bedingungen die meisten Araber leben, ich meine die Armut, den Analphabetismus, die mangelnde öffentliche Unterstützung in jeder Beziehung und in Ländern wie dem Irak die despotische Unterdrückung. Auf der anderen Seite kann man die Freude über den Sturz Saddams nicht mit der Freude über den Einmarsch der Amerikaner in ihre Stadt gleichsetzen. Die meisten Araber begreifen den Krieg im Irak als einen Angriff auf eine arabische Nation oder gar auf den Islam. Im Moment befinden sich die Menschen der arabischen Welt ob der jüngsten für alle überraschenden Entwicklung in einer Art Schockzustand. Es braucht Zeit, bis sie die neue Realität verarbeitet haben. Werden Ihnen die Amerikaner dann als Befreier oder Besatzer erscheinen? Mustafa: Offensichtlich zielt der Angriff der USA – egal wie man zu diesem Krieg stehen mag – auf das Regime Saddam Hussein und nicht auf den Irak selbst. Ob sich die Menschen aber schließlich doch mehrheitlich gegen die USA wenden werden, hängt allein davon ab, ob es den Amerikanern gelingen wird, Sicherheit und Ordnung zu garantieren und die Lebenssituation der Menschen zu verbessern. In Nassirija ist bereits ein bekannter irakischer Exilpolitiker von einer aufgebrachten Menge zerstückelt worden – Grund war die Kollaboration mit den Alliierten. Fanal oder Einzelfall? Mustafa: Ehrlich gesagt hat mich dieser Vorfall nicht überrascht, natürlich sind die Ressentiments gegen die Alliierten lebendig, denken Sie an die Bombardements oder an das Embargo. Die Araber fühlen sich von den USA traditionell unterdrückt, und dieses Gefühl wird wohl auch in nächster Zeit anhalten. Droht daraus ein neuer Krieg zu entstehen, ein asymmetrischer Partisanenkrieg? Mustafa: Diese Gefahr besteht durchaus, jedoch ist wohl nicht mit einer Auseinandersetzung in großem Maßstab zu rechnen. Gleichwohl könnte ein solcher Krieg für die USA oder ihre Nachfolger zermürbend sein. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, die Grenzen des Iraks dicht zu halten. Denn aus dem Irak selbst wird sich kein wirklich tragfähiger Partisanenkrieg entwickeln. Wenn ein solcher entsteht, dann weil islamistische Gruppen aus anderen arabischen Ländern über die Grenze ins Land kommen. Wie Sie wissen, haben sich bereits vor dem Krieg Freiwillige aus allen arabischen Ländern gemeldet, um als Selbstmordattentäter gegen die Amerikaner zu kämpfen. Allerdings haben Sie als Politologin bei der Untersuchung der Massenproteste gegen den amerikanischen Angriff auf den Irak auch ein Anwachsen des arabischen Selbstbewußtseins gegenüber den eigenen Staatschefs feststellen können. Mustafa: Etwas vielleicht Entscheidendes hat sich verändert: die Demonstrationen, die bislang lediglich Ausdruck des Antiamerikanismus waren, haben den Arabern in einigen Ländern das Selbstvertrauen gegeben, künftig auch gegen ihre eigenen Regierungen zu opponieren. Denn mit dem Angriff auf Saddam ist die US-Politik ganz anders aufgetreten, als das früher der Fall war. Während die Amerikaner in der Vergangenheit konservativ waren und die meisten despotischen Regime der arabischen Welt gestützt haben, sind sie diesmal der revolutionierende Faktor gewesen. Auf einmal kann ein arabisches Regime mit der Begründung mangelnder Demokratie gestürzt werden. Das ist neu und wird die Koordinaten des Denkens verschieben. Steht der arabischen Welt dank Saddams Sturz eine Welle der Veränderung bevor? Mustafa: Zumindest insofern, daß die Dinge infolge der Vorgänge im Irak auch in anderen Ländern des Orients in Bewegung geraten werden. Die dortigen Herrscher werden gezwungen sein, Reformen einzuleiten. Allerdings werden die neuen Verhältnisse auch dem Islamismus Optionen bieten. Dazu kommt, daß die Tatsache, daß fremde Truppen künftig nicht nur in Saudi-Arabien, sondern nun auch im Irak stehen, für seine Zwecke durchaus propagandistisch förderlich ist. Die Fundamentalisten werden zudem natürlich versuchen, ganz unmittelbar von der chaotischen Situation im Irak zu profitieren. Und Staaten wie der Iran stehen bereit, diese Entwicklung zu unterstützen. Saddam allerdings hat die Fundamentalisten seinerseits verfolgt. Mustafa: Ja, im Irak, außerhalb des Landes, wie zum Beispiel in Palästina, hat er allerdings fundamentalistische Gruppen durchaus gefördert. Was ist unter Islamismus zu verstehen, lediglich eine Terrorideologie oder ein – ob westlicher Demütigungen – aus dem Ruder gelaufenes kulturelles Selbstverständis? Mustafa: Der Islamismus muß als soziale Protestbewegung begriffen werden. Kulturell befindet er sich in Frontstellung zum gesamten Westen, nicht nur zu den USA – was sich die Europäer stets vergegenwärtigen sollten. Der 11. September fand in den USA statt. Mustafa: Weil die USA als führende Supermacht die Speerspitze des Westen darstellen. Die fundamentalistischen Führer beteuern immer wieder, es ginge ihnen lediglich um den Rückzug der USA aus der arabischen Hemisphäre. Mustafa: Das ist in der Tat ihr vorrangiges Ziel, doch eine Analyse der fundamentalistischen Schriften zeigt die grundsätzliche Unvereinbarkeit mit dem Westen. Das ist so seit dem Erscheinen der ersten islamistischen Sekte im 20. Jahrhundert, der ägyptischen Muslimbruderschaft, die im Kampf gegen die britische Kolonialmacht 1928 entstanden ist. Dabei kann der Fundamentalismus nicht als Verkörperung des islamischen Lebens betrachtet werden. Wie soll der Westen dem Islamismus begegnen, angriffs- oder gesprächsbereit? Mustafa: Seit den siebziger Jahren versuchen wir, den Fundamentalismus einzudämmen – ohne wirklichen Erfolg. Dies nun ist die Zeit der Konfrontation. Damit meine ich jedoch nicht einfach eine militärische Lösung, sondern den Angriff auf die Grundlagen des Fundamentalismus, also auch auf wirtschaftlicher, kultureller und politischer Ebene. Ihn lediglich mit Waffen zu bekämpfen, hat ebensowenig Sinn, wie sich auf ihn einzulassen. Es muß gelingen, ihm die Basis zu entziehen. Die USA wollen nun aus dem Irak eine westliche Demokratie machen. In den Ohren vieler Fachleute klingt das phantastisch. Mustafa: Dieser Prozeß wird seine Zeit brauchen. Es ist in der Tat unrealistisch, zu erwarten, daß das Land sich von heute auf morgen in eine Demokratie verwandelt. Der erste Schritt muß sein, die Ordnung im Land wiederherzustellen, um zu verhindern, daß sich radikale Elemente festsetzen. Dann müssen die verschiedenen irakischen Volks- und Machtgruppen an einen Tisch gebracht werden, damit keine offenen Streitereien ausbrechen. Schließlich muß eine Koalitionsregierung aus all diesen Gruppen gebildet werden, damit keine sich benachteiligt fühlt. Gelingt auf diese Weise ein Übergang, so gibt es durchaus eine Chance, die Situation im Irak zu verbessern. Allerdings haben Sie recht, auch ich glaube nicht, daß sich das Land in absehbarer Zeit zu einer vollwertigen Demokratie entwickeln kann. In Algerien hat die Demokratisierung Anfang der neunziger Jahre einen Wahlsieg der islamistischen Heilsfront FIS zur Folge gehabt. Ist ähnliches auf absehbare Zeit auch im Irak möglich? Mustafa: Das steht zu befürchten, denn die arabische Welt ist nicht Südamerika oder Osteuropa. Unsere Gesellschaften sind sehr konservativ und stammesmäßig orientiert, Demokratie kann hier nur verankert werden, wenn damit gleichzeitig ein Prozeß der Modernisierung, Liberalisierung und Säkularisierung einhergeht. Bedeuten Modernisierung, Liberalisierung und Säkularisierung aber nicht die Aufgabe der arabischen Werte und eine Auslieferung an den westlichen Konsumismus und Hedonismus? Mustafa: Modernisierung ist in der Tat eine Herausforderung für die arabische Welt, aber nicht unmöglich. Wenn die Araber künftig Diktatoren wie Saddam Hussein verhindern wollen, müssen sie ihren Weg in die Demokratie gehen. Und Demokratie ist ein System, das mit unserem klassischen Stammessystem nicht vereinbar ist. Die Frage ist, ist Demokratie per se eine westliche Angelegenheit? Wenn man das so betrachtet, verurteilt man den Orient auf ewig dazu, von Despoten beherrscht zu werden. Das andere große Problem für die US-Pläne im Irak sind die verschiedenen Völkerschaften und Stammesrivalitäten. Werden sie sich am Ende als ein größeres Problem erweisen als der Fundamentalismus? Mustafa: Die Gefahr des Fundamentalismus übersteigt die Gefahr der Stammesrivalitäten auf jeden Fall, denn die Stammesstrukturen sind tradiert und haben per se keine politische Zielrichtung – sie lassen sich durch einen Modernisierungsprozeß überwinden. Der Fundamentalismus dagegen verfolgt konkrete politische Ziele und stellt mehr als ein Hindernis, nämlich eine Gegenkraft dar. Droht der Irak nicht an der Rivalität seiner Völker und Stämme zu zerbrechen? Mustafa: Das ist dann möglich, wenn schwerwiegende Fehler gemacht werden. Wenn etwa zu früh freie Wahlen angesetzt werden, diese also noch unter dem Eindruck der gegenwärtigen instabilen Situation stattfinden, dann ist solch ein Resultat durchaus möglich. Wird dagegen erst die Ordnung und damit Vertrauen in eine zentrale Ordnungsmacht hergestellt, also erst in einer Situation staatlicher und gesellschaftlicher Stabilität gewählt, müßte ein Auseinanderbrechen zu verhindern sein. Die Drohungen der USA gegen Syrien nehmen seit Beginn des Krieges auffällig zu. Fürchten die Araber einen neuen Angriff der USA? Mustafa: Ich bin mir nicht sicher, ob die Amerikaner tatsächlich erneut dasselbe Szenario wie im Falle des Irak verfolgen werden. Natürlich wäre das eine große Belastung, denn der Konflikt verläuft schließlich nicht zwischen den Arabern und den Amerikanern, sondern zwischen den USA und einigen Regimen in der Region. Wichtig ist auch die Regelung der Palästina-Frage. Die Amerikaner würden durch die Aufnahme neuer Verhandlungen den Antiamerikanismus der Araber eindämmen. Den Arabern dagegen ist Demokratie nicht zu verkaufen, wenn Israel gleichzeitig weiterhin seine aggressive Politik betreibt. Dr. Hala Mustafa ist Leiterin des Instituts für vergleichende politische Wissenschaften des „Al-Ahram Center for political and strategic Studies“ in Kairo und Herausgeberin der Vierteljahreszeitschrift „Democracy Review“. Außerdem lehrt sie an der ökonomischen und politischen Fakultät der Universität von Kairo, der Nasser-Militärakademie sowie dem Institut für Diplomatie des ägyptischen Außenministeriums. Geboren 1958 in Kairo, studierte sie in ihrer Heimatstadt, Paris und Maryland/USA. Sie ist Autorin zahlreicher Fachbücher, vor allem zum Problem des Islamismus und der Frage, Kulturkampf oder Koexistenz zwischen dem Westen und der muslimischen Welt. weitere Interview-Partner der JF
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