Wie war das? Erinnern wir uns, jenseits der über mehr als drei Jahrzehnte nun auf uns gekommenen und medial über uns gebrachten Bilder, noch an die Innenwelt? Erinnern wir uns noch des Gefühls, das sich unser bemächtigte in einem heißen, trockenen Sommer, in dem selbst die großen Städte dann auf eine ganz eigene Weise nicht nur leer wirkten, sondern auch leer waren? Rostock mochte ein wenig Erleichterung erhalten von der Ostsee. Dresden ein wenig von der Lage am Fluß und, paradoxerweise, von der im Krieg versunkenen Pracht.
In Leipzig zum Beispiel aber rieselte der Putz von den verfallenden Gründerzeithäusern herab auf die buckligen Trottoirs jener Straßen, die in ihren besten Zeiten Boulevards waren, wie man sie auf impressionistischen Gemälden finden kann. Unkraut sproß da indes aus den Fugen der Granitplatten, oder aber kleine Birken, die sich in maroden Dachrinnen angesiedelt hatten, bogen sich leise in der aufsteigenden Hitze. Wer konnte, der versteckte sich vor dem Morbiden in Gartenhäusern.
Verfall im Außen, Machtlosigkeit im Innern
Doch nicht nur vor dem Verfall galt es sich in Sicherheit zu bringen, sondern auch vor der eigenen Machtlosigkeit angesichts der intellektuellen Zumutungen, welche sich gerade in der Sprache der Mächtigen offenbarten. Und die Sprache der Mächtigen war in nicht geringem Maß darauf aus, Angst zu erzeugen.
Abweichung, Kritik und Dissidenz konnten so nicht einfach Abweichung, Kritik und Dissidenz bleiben, sondern mußten verfolgt und unter Strafe gestellt werden. Nicht nur Gefängnisstrafen gab es da, sondern auch und vor allem soziale Ächtung. Der Staatssicherheitsdienst sorgte für die „systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes“. Und wie zu allen Zeiten fanden sich Helferlinge, die Gerüchte verbreiteten, Verleumdungen, Lügen.
Große Flucht ins Irgendwo
Es ging darum, Schaden anzurichten und die Existenzen derer zu zerstören, die sich abwandten von der vorgegebenen und als höchste Entwicklung menschlichen Denkens und Handelns gepriesenen Ideologie. Zersetzte Leben. Gefangene Leben. Nach außen abgeschirmt, ein Entkommen nur unter Lebensgefahr auf Wegen, wo doch lediglich Verkehrswege hätten sein sollen. Wenn, nach Golo Mann, eine jede Zeit mit ihrem eigenen Maßstab gemessen sein wolle, so können Systeme, die totalitär sind oder die Totalitäres anwenden, nicht anders, als sich abzuschotten und Dissidenz zu verfolgen.
Wer konnte, der hatte im Sommer solche Städte verlassen. Hinaus ans Meer, in die thüringischen und sächsischen Gebirge, an Seen. „Komm! Ins Offene, Freund!“ hatte Hölderlin geraten, und das galt noch in jenen nun langvergangenen 1980er Jahren. Nicht viel später wurden die Fluchtbewegungen in die Datsche, an den FKK-Strand, an die Seen Mecklenburgs und Pommerns, in die Indianistik- und Numismatikvereine mild lächelnd bis höhnisch als Nischengesellschaft bezeichnet.
Revolution gegen die Lügen 1989
Das war damals. Schließlich fanden sich am Ende der von Niedergang, Aussichtslosigkeit und Bedrängnisgekennzeichneten 1980er diejenigen, die vor dem Verfall sich verborgen hatten, so gut es eben ging, zusammen, um sich gegen diesen auch ihre Leben vergiftenden Verfall zu wehren.
Das wurde später mit dem Terminus von der Friedlichen Revolution behängt. Sie fanden sich zusammen, um ihre Stimme gegen die Lüge zu erheben. Die Lüge namens Staatsbürgerkundeunterricht. Die Lüge namens Zugehörigkeit zu den zehn führenden Industriestaaten der Welt. Die Lüge namens Stimmabgabe für die Kandidaten der Nationalen Front. Die Lüge namens Staatssicherheit. Die Lüge namens Sozialismus.
Am 25. September 1989 gab es in Leipzig die erste größere Demonstration. Der Kommandeur der Kampfgruppeneinheit „Hans Geiffert“ ließ am 6. Oktober 1989 in der Leipziger Volkszeitung wissen, daß er und seine Genossen willens seien, das mit ihrer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu verteidigen, um so die konterrevolutionären Aktionen endgültig zu unterbinden.
Aufbruch in die Freiheit
Das große Vorhaben, das wohl alle, die im Herbst 1989 aufbegehrten, verband, war Freiheit. In einem ersten Schritt ging es dabei um die Freiheit von ideologischer Gängelung, von Verleumdung und Denunziation, von Angst, von Unrecht und ja, auch das, von wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit.
Die Forderung nach Freiheit von alledem war aber zugleich verbunden mit der zu lebenden Freiheit des eigenmächtigen Denkens, Sprechens und Handelns. Und Wahlen sollten Wahlen sein und nicht die Abgabe der eigenen Stimme, die dann benutzt und vernutzt wurde von einer Einheitsliste von Parteien, die sich der Ideologie der führenden Partei zu beugen hatte.
Hoffnung auf den Westen
Für die Gewährleistung all dieser Freiheiten stand für die allermeisten Systemstürzer von 1989 im geteilten Deutschland der westliche Teilstaat. Dort in der Bundesrepublik waren die ersehnten Freiheiten ja grundgesetzlich verbrieft. Dort wäre es nicht möglich, daß im Namen einer Ideologie berufliche Karrieren verhindert, der öffentliche Ruf diskreditiert und Existenzen zerstört würden.
Undenkbar auch der Gedanke, daß unter ideologischen Prämissen sehenden Auges die Wirtschaft eines Landes ruiniert würde. Dort gäbe es keine Helferlinge, die heimlich oder in den Medien Abweichler, Kritiker und Dissidenten für alle sichtbar und zur Warnung markierten. „… schön ist der Ort, wenn in Feiertagen des Frühlings/Aufgegangen das Tal“, heißt es bei Hölderlin.
Das feine Sensorium der Ostler
Diejenigen in den östlichen Bundesländern des vereinten Deutschlands, welche damals ihre Haut zu Markte getragen hatten, gerieten in ein Leben, das für viele ein unvorstellbares war. Neben den Freiheiten, neben der einem totalitären System abgerungenen Würde, neben der Selbständigkeit, in die sich etliche auf den Weg machten, stehen zahlreiche Verluste zu Buche.
Das Harz der Aussichtslosigkeit hielt die Lebensläufe vieler nun nicht mehr gefangen. Manche wurden von der Sturzflut der Ereignisse mitgerissen und weggespült. Weggespült aus ihren Arbeitsverhältnissen, ihren Wohnungen, ihren Wohnorten, ihren Heimatregionen. Immobilien, Betriebe, ja, Grund und Boden wechselten, wieder einmal, den Besitzer. Selten war das einer der Nachbarn.
Aber das feine Sensorium, das im real existierenden Sozialismus ein jeder gegenüber Bevormundung, Denunziation, Verachtung, Bedrängnis und Gefahr entwickelt hatte, verschwand nicht, es blieb über die Jahre und Jahrzehnte hinweg bis heute erhalten. Und so ist seit längerer Zeit nun immer wieder der Satz zu hören, daß das vereinte Deutschland sich mehr und mehr jenem angleiche, das man mit der DDR untergegangen glaubte.
Über das Leben am Ende der Regime
„Trüb ist’s heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will/Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.“ Wieder Hölderlin. In den späten Achtzigern, in einer Zeit, die sich im nachhinein als die Spätphase der DDR herausstellte, war das der Grundton.
Niedergeschlagenheit und Aussichtslosigkeit. Heute nun sind die Städte und Dörfer in den östlichen Bundesländern längst dem Verfall entrissen. Im Gegenteil wundert sich mancher aus jenen Gefilden, der einmal in den westlichen Bundesländern unterwegs ist, über das ästhetisch fragwürdige Erscheinungsbild mancherorts dort.
Sprachspiel um die Freiheit
Das, was jedoch zum Vergleich reizt, ist vielmehr anderer Natur. Es ist, beispielsweise, die Rückkehr eines oktroyierten Sprechens, das von Funktionären aus Parteien und Medien, aber auch von Universitätsangehörigen oder Vertretern des Kulturbetriebes über die Öffentlichkeit gebracht wird. Indes erinnert sich noch mancher der gönnerhaften Amüsiertheit, mit der man im Westen nach 1989 die verordnete Sprache der Staatssozialisten entdeckte.
Doch der Zugriff auf die Sprache und auf die Art zu sprechen ist totalitärem Agieren, gleich welcher Couleur, gemein. Und immer wieder berichten nun Bayern, Hessen, Niedersachsen, daß sie im Freundes- oder Kollegenkreis nicht mehr über alles sprechen könnten, Themen wie mediale Indoktrinierung, Migration, innere Sicherheit oder Corona-Maßnahmen mieden, um nicht in Verdacht zu geraten, ein Abweichler und Kritiker, also ein Rechter, zu sein.
Es sind nicht selten dieselben Leute, die einst gefragt hatten, wie das denn in der DDR gewesen sei, wie die denn im Alltag sich angefühlt habe. Und es reizt zum Vergleich manchen auch die Rückkehr eines Mitläufertums, das in Medien, Universitäten und im Kulturbetrieb Rekrutierungserfolge verzeichnen konnte.
Die Rückkehr der Ideologie
Mit dem Mitläufertum zurückgekehrt ist auch dessen Zwilling, das Denunziantentum. Die Denunziation wird freilich nicht als solche begriffen oder bezeichnet, sondern vielmehr als berechtigte Abwehr von Kritikern. Scheinheilig heißt es da, Kritiker müßten eben den Widerspruch auch aushalten. Was aber, wenn dieser Widerspruch sich in sozialer Ächtung äußert, die dann, durchaus gewollt, dramatische ökonomische Konsequenzen zur Folge hat?
Das Ideologische ist zurückgekehrt und seine Akteure sind seit langem dabei, Wirtschaft, politische Welt, Kunst und Kultur umzubauen. Sie scheuen sich dabei nicht, Werkzeuge aus dem Repertoire des Totalitären einzusetzen.
Massendemos – für das Regime
Anfang des Jahres 2024 strömten in ganz Deutschland Hunderttausende auf die Straßen und Plätze, um Gesicht und Haltung zu zeigen als Reaktion darauf, daß während eines privaten Treffens in einem Potsdamer Hotel über die „Deportation“ von Ausländern gesprochen worden sein soll. Die Nachrichtensendungen und Zeitungen hatten im Großeinsatz einen aufgedeckten Geheimplan gegen Deutschland vermeldet, und höchste Repräsentanten aus Staats- und Parteienführungen riefen zu Großkundgebungen gegen diesen Geheimplan auf.
Das reizte manche abermals zum Vergleich. Denn auch in der DDR strömten Hunderttausende auf die Straßen und Plätze, um Gesicht und Haltung zu zeigen. Für den Sozialismus. Oder die brüderliche Verbundenheit mit der Sowjetunion. Oder den Weltfrieden. Auch diese Hunderttausende wurden von höchsten Repräsentanten von Staat und Partei auf die Straßen gerufen.
2024 ist nicht 1989
Ein Vergleich kann nun aber Klarheit schaffen, darum vergleichen wir ja. Im real existierenden Sozialismus kamen solcherlei Veranstaltungen nämlich unter Zwang zustande. Betriebe, Universitäten, Schulen überwachten sehr genau, wer ihrer Angehörigen bei den angeordneten Aufmärschen fehlte. Unannehmlichkeiten waren bei Fehlen die Folge. Die Schicht derjenigen, die freiwillig und mit innerer Überzeugung den in den Medien getreu wiedergegebenen Aufrufen der Staats- und Parteiführung folgte, war nur dünn.
Anders im Jahr 2024. Die hier auf eine Erfindung und auf großangelegte mediale sowie politische Indoktrinierung hin zusammenströmten, wurden nicht von Vorgesetzten genötigt aufzumarschieren. Sie strömten auch dann noch zusammen, als Zweifel an der verbreiteten Version laut wurden.
„… und fast will/Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.“
Die bei dem privaten Treffen in Potsdam Ausspionierten gingen vor Gericht und klagten, und es stellte sich heraus, daß es sich bei dieser medial und politisch inszenierten Meldung nicht um eine „Recherche“, sondern um eine Erfindung von sogenannten Medienschaffenden gehandelt hatte.
Ausspioniert … In der DDR hätte es ausgekundschaftet geheißen. Denn der Kundschafter war, anders als der Spion, für die gute Sache im Einsatz. Die alte Bundesrepublik hat ein nicht wahrgenommenes oder unterschätztes Erbe hinterlassen, nämlich eine alle Schichten erreichende Ideologisierung. An den freiwilligen Aufmärschen läßt sich das gegenwärtige Ausmaß der ideologischen Durchtränkung der Gesellschaft ablesen. Es ist größer, als es in der späten DDR je war.
Im April 1989 kam Christoph Heins Stück „Die Ritter der Tafelrunde“ im Schauspielhaus Dresden auf die Bühne. Hingegen veranstaltete das Berliner Ensemble im Januar 2024 eine szenische Lesung aus dem Geheimplan gegen Deutschland. „… und fast will/Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.“
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Dr. Jörg Bernig, Jahrgang 1964, Schriftsteller, studierte Germanistik in Leipzig. Promotion über Stalingrad in der Nachkriegsliteratur. Zuletzt veröffentlichte er den Roman „Eschenhaus“ und die Essaysammlung „Habe Mut“. 2022 erhielt er den Andreas-Gryphius-Preis.