Als sich die Franzosen anno 1871 nach der Niederlage im Krieg gegen Deutschland für eine Republik entschieden, sah der deutsche Kaiser darin eine Gefahr für die Stabilität des europäischen Staatensystems. Bismarck, obgleich hundertprozentiger Monarchist, sah das anders. Er beurteilte die Staatsformen anderer Staaten nicht nach seiner persönlichen ideologischen Überzeugung, sondern allein danach, ob sie für das Reich nützlich oder schädlich waren. „Den inneren Verfall Frankreichs zu hindern“, ließ er im Mai 1873 Kaiser Wilhelm wissen, „ist nicht unsere Aufgabe. Derselbe ist mit dem Frieden Europas vielleicht gleichbedeutend.“ Und seinen Pariser Botschafter beschied er auf eine entsprechende Anfrage kurz und bündig: „Die Republik ist uns genehm!“
Die Vereinigten Staaten verfahren bekanntlich in der Außenpolitik nach derselben Maxime. Gesinnungstüchtige Bürger- und Menschenrechtler haben ihnen oft genug vorgeworfen, daß sie sich in Südamerika, in Südostasien oder im Nahen Osten skrupellos mit Diktatoren und Despoten eingelassen haben, wenn ihnen dies im Interesse der USA ratsam erschien.
Obwohl die Deutschen ihre Demokratie den Amerikanern verdanken, haben sie für deren pragmatische Auffassung keinerlei Verständnis. Die Demokratie, die zwar ein fabelhaftes Instrument einer oligarchischen Herrschaft sein mag, aber eben nur ein Mittel ist, ist für sie das höchste Ziel und der letzte Sinn einer jeglichen Politik.
Mit erhobenem Zeigefinger
Besonders abstrus nimmt sich diese Ansicht in der weltfremden deutschen „Weltinnenpolitik“ aus, die ihretwegen alle Merkmale einer religiösen Bewegung zeigt. Es gehört bereits zum amtlichen Ritual unserer Außenminister, bei Staatsbesuchen weltweit mit erhobenem Zeigefinger die Einhaltung von Menschenrechten, faire Wahlen und andere demokratische Sakramentalien anzumahnen. Einer sachgerechten Bewältigung der anstehenden Probleme ist dies nicht gerade förderlich.
Die Diskrepanz des amerikanischen und des deutschen Demokratieverständnisses zeigte sich auch an der unterschiedlichen Reaktion auf die revolutionären Vorgänge, die sich in den letzten Wochen in Ägypten, Tunesien und Libyen abspielten. Während die ersten Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz von Kairo in den amerikanischen Medien meist ziemlich zurückhaltend und differenziert kommentiert wurden, wurden sie von unseren Meinungsmachern fast durchweg einfach nur begeistert begrüßt. >>
Alle sahen darin nur einen Aufstand „unterdrückter Menschen“ gegen ein „unmenschliches Regime“. Und als sich die „Unruhen“ dann auch noch auf die Länder des Maghreb ausbreiteten, kannte die Begeisterung unserer Gutmenschen überhaupt keine Grenzen mehr, war doch nun scheinbar in einer der „dunkelsten“ Regionen der Erde, die „auf dem Weg in die Moderne“ am weiteten „im Rückstand“ waren, endlich ebenfalls der „demokratische Frühling“ angebrochen. Ohne daß sie nach möglichen Konsequenzen dieses Völkererwachens für Deutschland fragte, hat es unsre Intelligenzija pauschal als einen weltgeschichtlichen Fortschritt gefeiert.
Zu den wenigen Persönlichkeiten, die sich hierzulande von der allgemeinen Begeisterung nicht kopflos mitreißen ließen, gehörte ausgerechnet die Kanzlerin. Angela Merkel, die Hosni Mubarak noch wenige Monate zuvor in Berlin als ihren treuen Freund und Verbündeten begrüßt hatte, machte in ihren ersten Erklärungen kein Geheimnis daraus, daß sie von der Forderung der Rebellen nach dem sofortigem Rücktritt des „Diktators“ alles andere als erbaut war.
Lösung eines unserer brennendsten Probleme
Im Unterschied zur breiten Öffentlichkeit hatte sie vermutlich aufgrund ihres politischen Arkanwissens allen Grund, das deutsche Interesse an dieser ägyptischen Revolution zu bezweifeln. Nach ihrer Vorstellung gehört ja bekanntlich das Existenzrecht des Staates Israel zur deutschen Staatsräson. Man mag von dieser wunderlichen Idee halten, was man will, daß der „Unmensch“ Mubarak, der seit 1981 für die Einhaltung des Friedensabkommens von 1974 sorgte, der die Feinde Israels in seinem Land mit eiserner Faust im Zaum hielt und eine ausreichende Energieversorgung Israels sicherstellte, für Israel geradezu ein Gottesgeschenk war, kann niemand bestreiten.
Die zwei Milliarden Dollar Militär- und Wirtschaftshilfe, die Amerika jährlich dafür an Ägypten abführen mußten, waren aus israelischer Perspektive und aus der Sicht all derer, die an der Erhaltung der prekären Pseudostabilität im Nahen Osten interessiert waren, bestens angelegt. Wenn das Mubarak-Regime wirklich eine Diktatur gewesen sein sollte, dann hätte Angela Merkel also allen Grund gehabt, im Geiste Bismarcks zu dekretieren: „Diese Diktatur ist uns genehm! Ihre Zerstörung zu befördern, ist nicht unsere Aufgabe. Dieselbe ist vielleicht mit dem Ende des Friedens im Nahen Osten gleichbedeutend.“
Und wenn nicht alles täuscht, werden auch unsre demokratischen Idealisten noch Gelegenheit haben, ihre Begeisterung für den maghrebinischen Frühling zu bereuen. Die Tunesier und Libyer mögen gegen Ben Ali und Gaddafi noch so viel vorbringen können, uns haben sie nichts zuleide getan. Sie waren uns in den letzten Jahren sogar bei der Lösung eines unserer brennendsten politischen Probleme, im Kampf gegen die illegale Einwanderung von Wirtschaftsflüchtlingen aus Afrika, behilflich. Seit die Kooperation ihrer Polizei mit der europäischen Grenzsicherungsagentur Frontex aufgehört hat, ist in der EU nicht mehr von einer Abwehr der Bootflüchtlinge, sondern nur noch von ihrer gleichmäßigen Verteilung auf alle Mitgliedsstaaten die Rede. Allah erhalte uns den verrückten Muammar al-Gaddafi!
Prof. Dr. Robert Hepp ist Soziologe und Publizist. Er lehrte zunächst an der Universität Osnabrück, dann bis zu seiner Emeritierung 2006 an der Hochschule Vechta.