Als Bismarck die Altersrente für Über-Siebzigjährige einführte, entspräche das heute einem Rentenbeginn mit 85 Jahren. Das Problem des Rentenbeginns liegt in einer psychologischen Unfähigkeit (oder Unwilligkeit) der Menschen, zu begreifen, daß der Eintritt des Greisenalters gleitend ist, von 50 zu 60 zu 70 und vielleicht irgendwann zu 80 Jahren. Das Verständnis demographischer Veränderungen hinkt immer der Veränderung um mindestens eine Generation nach. Dieses „time lag“ beherrscht heute Europas Rentendebatte. Ein Sechzigjähriger ist nach heutigen Maßstäben nicht alt, obwohl er nach tradierter Meinung, vor allem der Arbeitgeber, als alt gilt. Diese populäre Auffassung ist so fest verankert, daß mancher Sechzigjährige sich selbst „alt“ fühlt, obwohl weder der körperliche noch der geistige Zustand dazu einen Anlaß bietet. Heute könnten die meisten Menschen ohne besondere körperliche oder geistige Problematik bis zum Alter von 65 und 70 Jahren erwerbstätig sein. Daß nur die wenigsten diese biologische Spanne voll nutzen, ist ein gesellschaftliches und psychologisches Problem. Zieht man die Altersgrenze bei 70 Jahren, so schrumpft die Kategorie der Senioren erheblich. Selbst wenn der Bevölkerung das „time lag“ erklärt werden könnte, bliebe der Haken sozialpolitischen Besitzstand-Denkens. Der 65jährige von heute sieht nicht ein, warum er fünf Jahre länger als sein Vater arbeiten soll. Niemand kann ihm plausibel machen, daß höhere Lebenserwartung auch längere Lebensarbeitszeit fordert und ermöglicht. In den USA beispielsweise suchen sich Millionen einen neuen Job, sobald sie in Rente oder Pension gehen. Kontinentaleuropa mit seinen öffentlichen Rentensystemen Modell Bismarck und seinen Zusatzarbeit bestrafenden Steuersystemen ist von amerikanischer Flexibilität weit entfernt. Benedikt Brenner ist Volkswirt mit dem Schwerpunkt Demographie, Redakteur und Mitarbeiter von www.germanpages.org . Für die Rentenfinanzen gibt es im Prinzip vier Stellgrößen: mehr Steuermittel in die Rentenkassen, Beiträge erhöhen, Renten senken, länger arbeiten. Das letzte ist zweifellos die langfristig tragfähigste Strategie. „Rente mit 70“ klingt wie ein Vorschlag in dieser Richtung. Für die Mehrzahl der Betroffenen würde er aber nur auf eine Kürzung hinauslaufen. Die Heraufsetzung der Regelaltersgrenze verbessert nicht die Chance, im Alter zu arbeiten. Derzeit kommt nur ein knappes Drittel der jeweiligen Neurentner direkt aus beitragspflichtiger Beschäftigung – fast ebenso viele bezogen zuletzt Leistungen wegen Arbeitslosigkeit, und das dritte Drittel war in den letzten Jahren vor Renteneintritt überhaupt nicht mehr am Erwerbsleben beteiligt. Die wenigsten, die direkt aus Arbeit in Rente gehen, haben bis 65 gearbeitet. Wer aber vorher geht, muß einen Abschlag von 0,3 Prozent pro Monat des vorzeitigen Rentebeginns hinnehmen. Dann würde ein Rentenbeginn mit 63 auf eine Kürzung der Rente um 25 Prozent hinauslaufen. Wer nicht auf lange und kontinuierliche Berufstätigkeit oder hohen Verdienste und entsprechende Beitragszahlungen zurückblicken kann, ist dann auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen. Die Abschlagsregelung ist schon jetzt sozial ungerecht. Bis 65 arbeiten typischerweise Akademiker, die eine deutlich höhere Lebenserwartung haben als Arbeiter. Unter den Frührentnern sind überproportional Geringqualifizierte, die ihr Erwerbsleben früh begonnen haben, harten Arbeitsbedingungen ausgesetzt waren und ihre Gesundheit verschlissen haben. Mit Rentenabschlägen bei Frührente bezahlen sie für einen längeren Rentenbezug, den sie in diesem Ausmaß gar nicht erleben, weil sie früher sterben. Diese schon jetzt bestehende Ungerechtigkeit würde sich verschärfen, wenn bei einer Regelaltersgrenze von 70 fünf Jahre mehr mit Abschlägen auszugleichen sind. Dr. Matthias Knuth ist Wissenschaftlicher Geschäftsführer am In-stitut Arbeit und Technik in Gelsenkirchen ( www.iatge.de ).
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