Ängste besitzen den Nachteil, daß sie mit dem, was wirklich zu fürchten ist, meist wenig zu tun haben. Von „1984“ bis „Schöne neue Welt“ hat man sich die supermoderne drogengestützte Weltdiktatur ausgemalt, und was ist gekommen? Bärtige Männer und Kopftuchfrauen, die für die Wiedereinführung des Mittelalters sich selbst in die Luft jagen. Eine ähnliche Überraschung könnte sich bei der Gentechnik ergeben. Nachdem koreanische Wissenschaftler um Woo Suk Hwang jetzt erstmals Stammzellen aus geklonten menschlichen Embryonen gewinnen konnten, richten sich aller Augen wieder einmal auf die Ecke, aus der geklonte Models und Olympiasieger hervortreten sollen, das perfekte Designerbaby oder gleich der blonde Übermensch. Man glaubt den Forschern und ihren Geldgebern nicht, daß in bezug auf den Menschen nur das „therapeutische Klonen“ beabsichtigt sei. Nie werden die Embryonen demnach in eine Gebärmutter eingepflanzt, sondern gleich im Anfangsstadium im Labor für die Gewinnung von Geweben und Organen genutzt. Auch der medizinische Laie kennt die Schwierigkeiten bei der Beschaffung geeigneter Spenderorgane für die Transplantation. Um die Immunabwehr gegen das fremde Stück Fleisch im Körper zu unterdrücken, müssen die Patienten lebenslang starke Medikamente nehmen. Um an ein verwandtes Rückenmark zu kommen, ist vor einigen Monaten in Großbritannien sogar die gezielte Produktion eines Geschwisterchens für ein Kind mit seltener Blutkrankheit genehmigt worden. Auch soll es vorkommen, daß sozial Deklassierte „entbehrliche“ Organe wie etwa eine Niere verkaufen, um Zahlungskräftige illegal damit zu bedienen. Denken wir weiter an die bei Verkehrsunfällen häufigen schweren Verbrennungen, wo große Partien Haut schnell verpflanzt werden müssen, um den Patienten zu retten und ihm später wieder ein einigermaßen erträgliches Aussehen zu verschaffen. Man versucht, Haut von anderen Körperstellen zu gewinnen, aber diese Praxis ist eng begrenzt. Wie praktisch wäre es doch, mittels geklonter Zellen Hautkulturen ganz persönlicher Machart außerhalb des Körpers züchten und dann verpflanzen zu können! Technisch sind solche Vorstellungen bestechend, ja begeisternd. Wer diese Entwicklungen abschneiden will, wirkt ebenso mittelalterlich wie die erwähnten Bartträger. Menschlich allerdings melden sich Zweifel, die von ganz anderer Art sind als die „blonde Bestie“. Angenommen, die Hauttransplantation sei durch therapeutisches Klonen zu einer solchen Meisterschaft gereift, daß Verbrennungsopfer höheren Alters danach sogar besser, nämlich jünger aussehen als vor dem Unfall. Die Frage, inwieweit auch das Erbmaterial „altert“, das heißt Veränderungen erfährt, die man beim Klonen rückgängig machen („reprogrammieren“) muß, wird die Forscher noch eine Weile beschäftigen. Doch können wir davon ausgehen, daß auch hier die Technik siegen wird. Dann aber könnte es wirklich gefährlich werden. Mit dem Begriff „Anti-aging“ wird das vorschnelle Altern bereits als Krankheit anerkannt. Wie viele Ältere können es plausibel machen, daß sie unter ihrem Aussehen so sehr leiden, daß eine „Hauterneuerung“ unabdingbar ist? Bei Wohlhabenden würde es sich eh nur um eine effektivere Form des Liftens handeln. An der Berliner Charité sind gerade einer 36jährigen Patientin mit der Darmkrankheit Morbus Crohn acht Organe auf einmal neu eingepflanzt worden. Angeblich geht es ihr prächtig. Gut geht es aber vor allem den beteiligten Medizinern, die ein „Wundertier“ vorführen können, wogegen das Klonschaf Dolly beinahe verblaßt. Die Gentherapie verstärkt massiv eine bestimmte Tendenz der modernen Medizin. Es geht nicht mehr um Sieg oder Niederlage, Tod oder Heilung, sondern das Resultat der Behandlung liegt irgendwo dazwischen. Schon wirken gentherapeutische Mittel in einem Teil unserer Medikamente. Aufwendigere Verfahren der Einschleusung genetisch gesunder Zellen an den Krankheitsherd werden ebenfalls schon am Menschen erprobt. Immer geht es dabei um Flickwerk. Niemand wird von einem alten und kranken in einen jungen gesunden Menschen verwandelt. Die Alten und Kranken leben nur länger und fühlen sich im günstigen Fall etwas besser. Bei jedem Fortschritt stößt man an Punkte, wo die Richtung fragwürdig wird. Die Medizin könnte mit der Gentherapie an die Grenzen ihrer bisherigen Aufgabe stoßen. Aber nicht, weil hier „Gott gespielt“ wird, sondern weil der Mensch als „Zweck an sich“ in Konflikt gerät mit einer kulturellen Entwicklung, die sich nicht darin erschöpfen kann, daß die Arbeitenden ein wachsendes Heer von Behandlungs- und Pflegebedürftigen finanzieren. Diese Bedrohung ist tausendmal näher als jede Klonphantasie. Unsere überlieferten Moralvorstellungen versagen vor dieser Problematik. Vielleicht wird der einzige Ausweg irgendwann darin bestehen, Krankheit und Altersbeschwerden schon bei der Entstehung menschlichen Lebens zu bekämpfen – und den Eingriff in die Keimbahn zu enttabuisieren. Der Mensch ist nicht Gott. Er vermag keine Neuschöpfung, sondern reagiert auf Probleme – eins nach dem anderen.
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