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Kommentar zur Befreiungsideologie: Antifaschistischer Zivilisationsbruch

Kommentar zur Befreiungsideologie: Antifaschistischer Zivilisationsbruch

Kommentar zur Befreiungsideologie: Antifaschistischer Zivilisationsbruch

Gauck
Gauck
Bundespräsident Joachim Gauck legt zum 70. Jahrestag des Kriegsendes einen Kranz auf dem sowjetischen Soldatenfriedhof in Lebus nieder Foto: picture alliance/dpa
Kommentar zur Befreiungsideologie
 

Antifaschistischer Zivilisationsbruch

Noch nie haben die Befreiungsorgien so ungehemmt getobt wie in diesem Jahr. Zwar hätte das Gedenken an die Opfer der anderen Völker eine gute Sache sein können, wenn dabei das Erinnern an die eigenen Kriegs- und Nachkriegstoten nicht ausgefallen wäre. Ein Kommentar von Thorsten Hinz.
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In Zeiten wie diesen und erst recht, wenn der 8. Mai 1945 sich zum siebzigsten Mal jährt, benötigt man philosophischen Gleichmut, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Seit Jahren greife ich zu dem Zweck zu Heiner Müllers Langgedicht „Mommsens Block“, das der Dichter kurz nach der Wiedervereinigung schrieb und in dem er seinen Ekel über die Gegenwart in der späten Schreibhemmung des Althistorikers Theodor Mommsens spiegelt.

Mommsen hatte den vierten Band seiner Römischen Geschichte nicht mehr fertiggestellt, weil – so heißt es – ihn das nach dem Tode Caesars errichtete Kaiserreich in seiner Dekadenz abstieß. In einem Restaurant belauscht das lyrische Ich ein Gespräch zweier Helden unserer Zeit – „Lemuren des Kapitals Wechsler und Händler“ – und anerkennt die Sinnlosigkeit seines Widerspruchs: „Tierlaute Wer wollte das aufschreiben / Mit Leidenschaft Haß lohnt nicht Verachtung läuft leer“.

Über die meisten Veranstaltungen, Sendungen, Reden und Artikel, die zum diesjährigen Jubiläum organisiert und verbreitet wurden, ist ebenfalls weiter nichts zu sagen. Höchstens läßt sich feststellen, daß die Befreiungsorgien noch nie so ungehemmt tobten wie in diesem Jahr. Das Gedenken an die Opfer der anderen Völker hätte eine gute Sache sein können, denn schließlich ist es an der Zeit, daß die Europäer Empathien für die Toten der jeweils anderen entwickeln.

Kein Gedenken für eigene Opfer

Sie wurde aber dadurch verdorben, daß das Gedenken an die elendig zugrunde gegangenen deutschen Kriegsgefangenen in den Rheinwiesen oder an die Opfer des Massenselbstmords, der in der pommerschen Kleinstadt Demmin nach dem Einmarsch der Roten Armee stattfand, ausfiel.

Wie tragisch die Situation der Wehrmacht 1945 gewesen war, wurde mir erst wieder am vorletzten Wochenende klar, als ich eine Ausstellung in der von Schinkel erbauten Elisabethkirche in Berlin besuchte. Das Gotteshaus war am 18. März 1945 durch Bomben zerstört und nach 1990 in vereinfachter, durchaus ansprechender Form wieder hergestellt worden.

Hätte man denn nicht, fragte ich mich spontan, vorher kapitulieren können? Dann fiel mir ein, daß deutsche Soldaten exakt bis zum 18. März die pommersche Hafenstadt Kolberg verteidigt hatten – nicht weil sie an den „Endsieg“ glaubten, sondern um den Abtransport von zigtausenden Flüchtlingen aus dem Osten zu sichern, die andernfalls in die Hände der Rotarmisten gefallen wären.

Anzeichen einer schweren Pathologisierung

Solche unauflöslichen Konstellationen spielte keine Rolle in den Reden. Längst werden die nächtlichen Massenmorde durch alliierte Bomben als Mittel für den historischem und moralischem Zweck – der „Befreiung“ nämlich – verteidigt. Das alles hat nichts mehr mit moralischer Erschütterung, mit Selbstprüfung oder überschießender Selbstkritik zu tun, sondern es sind die äußeren Anzeichen einer schweren Pathologisierung.

Eine Bemerkung noch zu einem Satz des Historikers Heinrich August Winkler, unseres Westwärts-Treitschkes, ausgesprochen am 8. Mai im Bundestag: „Der von den alliierten Soldaten, und nicht zuletzt denen der Roten Armee, unter schwersten Opfern erkämpfte Sieg über Deutschland hatte die Deutschen in gewisser Weise von sich selbst befreit – befreit im Sinne der Chance, sich von politischen Verblendungen und von Traditionen zu lösen, die Deutschland von den westlichen Demokratien trennten.“

Keine Loyalität gegenüber den eigenen Toten

Wie flach das ist! Viel Wesentlicheres ist geschehen. Der 8. Mai 1945 hat auf längere Sicht den Abschied von der Loyalität zu den eigenen Toten und der eigenen Substanz markiert. In gewisser Weise fällt die Bundesrepublik hinter der Antike, hinter der „Antigone“ des Sophokles zurück. Antigone übertrat das politische Gesetz des Staates, um einem höheren, einem menschlichen Gesetz zu gehorchen und den toten Bruder zu ehren und begraben.

Dieses natürliche Band wird von der Befreiungsideologie zerschnitten. In diesem Sinne sind wir mit einem antifaschistischen Zivilisationsbruch konfrontiert! Wer den erkannt hat, braucht seine Energien nicht mehr an Leidenschaften wie Haß und Verachtung verschwenden.

Bundespräsident Joachim Gauck legt zum 70. Jahrestag des Kriegsendes einen Kranz auf dem sowjetischen Soldatenfriedhof in Lebus nieder Foto: picture alliance/dpa
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