In Bernd Eichingers Film „Der Untergang“, der die letzten Tage des NS-Staates im umkämpften Berlin nachzeichnet, bilden Selbsttötungen so etwas wie ein Leitmotiv: vom letzten Akt, in dem sich Hitler mit seiner Frau Eva das Leben nahm, über die Vergiftung der Goebbels-Kinder durch ihre Mutter und den folgenden Suizid der Eltern, bis zu den Generälen und hohen Funktionären oder dem verwundeten Soldaten, die sich aus Hoffnungslosigkeit eine Kugel in den Kopf jagten.
Die Situation in Berlin war untypisch insofern, als das Tempo der Entwicklung und der Druck der Umstände viele Handlungsweisen erklären hilft, typisch insofern, als die Zahl der Selbsttötungen in der Endphase des Zweiten Weltkrieges auch sonst dramatisch stieg. In den Berichten des SD für den internen Gebrauch hieß es seit dem Herbst 1944, daß auffallend viele Menschen die Wirksamkeit von Giften interessierte, und auf alliierter Seite registrierte man „Selbstmordwellen“ in den Teilen des Reichsgebietes, die von der Besetzung bedroht waren.
Angst vor den Soldaten der Sowjetarmee
Wie viele Menschen denen zum Opfer fielen, ist kaum noch festzustellen. Aber selbst in einer relativ abgelegenen Landschaft wie Oberbayern stieg die Zahl der Suizide von 4 oder 5 im Monatsdurchschnitt auf 42 im April und Mai 1945. Während dieses Zeitraums sollen sich in Berlin annähernd 5.000 Menschen das Leben genommen haben, eine Zahl, die allerdings relativ klein erscheint, vergleicht man sie mit den Massenselbstmorden in einzelnen Orten wie Wildenhagen, wo schon im Januar ein Viertel der Einwohner, etwa 300 Menschen, in den Tod ging, in Schönlanke, wo 500 Menschen starben, Demmin, wo sich mindestens 700 Menschen umbrachten, oder dem kleinen Teterow, wo ungefähr 120 Menschen von eigener Hand starben.
In der Reichshauptstadt sollen die Gesundheitsbehörden Giftkapseln ausgegeben haben, beim letzten Auftritt der Philharmoniker, am 12. April 1945, verteilten angeblich Hitlerjungen Zyanid an die Konzertbesucher. Die Hauptursache für den Suizid war in der Regel die Angst vor den Soldaten der Sowjetarmee, insbesondere die der Frauen, die eine Vergewaltigung fürchteten oder nach vollzogener Tat nicht weiterleben wollten.
Im Einzelfall kam es auch im Westen zu ähnlichen Reaktionen; so berichtet die Ortschronik des württembergischen Löchgau, daß ein Mann seine Frau, sein sechsjähriges Adoptivkind und dann sich selbst nach Mißhandlungen durch französische Truppen erschoß.
„Das Leben des einzelnen gehört dem Volk“
Die „suizidale Atmosphäre“ (Christian Goeschel), die Deutschland im Frühjahr 1945 erfaßte, wirkt wie die Folge einer kollektiven Depression im Angesicht der Katastrophe. Plausibel wirkt diese Erklärung auch deshalb, weil die statistischen Daten umgekehrt dafür sprechen, daß in der Phase der größten militärischen Erfolge die allgemeine Euphorie dazu führte, daß die Zahl der Selbstmorde auf einen Tiefstand fiel.
Erst nach dem Beginn des Bombenkrieges und der Niederlage von Stalingrad stieg die Zahl der Selbsttötungen wieder an, wobei auch der verschärfte Terror des Regimes gegen die eigene Bevölkerung eine Rolle spielte. Neben der Verzweiflung über den Verlust eines Angehörigen oder die Kriegssituation war die Sorge vor Verhaftung oder Aburteilung ein häufiges Tatmotiv.
Die Absicht der Führung, dem mit drastischer Ahndung des Suizidversuchs oder der moralischen Verurteilung zu begegnen – in einem Schreiben des Reichsjustizministeriums hieß es: „Das Leben des einzelnen gehört dem Volk. Er kann daher seinem Leben nicht willkürlich ein Ende bereiten.“ – blieb erfolglos.
Feigheit oder Akt der „Selbstaufopferung“
Allerdings unterschied das Regime immer zwischen Selbstmord aus Feigheit und dem Freitod als Akt der „Selbstaufopferung“. In diesem Sinn haben Hitler und Goebbels ihre eigenen Entscheidungen verstanden wissen wollen, aber ähnliche oder verwandte Motive dürften auch eine Rolle bei den „national gesinnten“ Beamten und Offizieren sowie den kleinen und großen Funktionsträgern des Systems gespielt haben, die ihrem Leben ein Ende setzten. Sie hatten oft genug Zeit, um die Tat zu planen, den Nachlaß zu ordnen, eine Erklärung zu hinterlassen, oder das Ganze sogar zu inszenieren, sich mit der Hakenkreuzfahne zu bedecken oder als Fanal das eigene Haus niederzubrennen.
Der Schriftsteller Dieter Borkowski berichtete über einen Flakhelfer, der immer eine Walther-Pistole bei sich trug und ganz ruhig erklärte, er werde „mit seinem Vater und seiner Schwester gemeinsam Selbstmord begehen, wenn die Bolschewisten bis nach Berlin kämen“, und der Historiker Walter Frank, Präsident des „Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschland“, nahm sich am 9. Mai 1945, unmittelbar nach der Kapitulation, das Leben, weil ihm eine Welt ohne Hitler sinnlos erschien.
Beispielloser Akt der Selbstauslöschung
Erstaunlich gering war allerdings die Menge derer, die den Tod im Kampf suchten. Belegt ist der Fall des Generals George von der Decken, der am 17. April fiel, nachdem er beim Angriff bewußt in das Schußfeld der sowjetischen Truppen gegangen war. Goebbels sprach zwar bewundernd von seinem Freund Eugen Hadamovsky, Reichssendeleiter des Rundfunks, der im März 1945 an der Spitze seiner Kompanie fiel, aber er selbst zog Blausäure vor.
Himmler äußerte mehrfach die Absicht, ein Bataillon an der Ostfront zu übernehmen und einen Verzweiflungsangriff zu führen, entschied sich dann aber für die Flucht, ganz ähnlich wie der Gauleiter von Württemberg, Wilhelm Murr, der Kampf bis zum letzten Atemzug von seinen Untergebenen forderte, aber bis ins Walsertal kam und sich erst nach Festnahme durch französische Truppen mit Gift tötete.
In jedem Fall fand 1945 ein Akt der Selbstauslöschung ohne Beispiel statt. Neben Hitler gingen vier weitere Mitglieder des Kabinetts (Goebbels, Himmler, Rust, Göring in Gefangenschaft am 15. Oktober 1946) sowie der Führer des Reichsarbeitsdienstes Robert Ley, dann ein Dutzend Reichstagsabgeordnete, zehn Gauleiter und sieben von siebenundvierzig Höheren SS- und Polizeiführern in den Tod. Von eigener Hand starben 53 von 554 Generälen des Heeres, vierzehn von 98 Generälen der Luftwaffe, elf von 53 Admirälen der Marine.
Haßausbrüche gegen das eigene Volk
Die Suizidversuche von Hans Frank, des Generalgouverneurs im besetzten Polen, und von Rudolf Heß, der sich im Februar 1945 mit einem Messer töten wollte, scheiterten. Bei den Erwähnten kann man annehmen, daß sie einerseits den Untergang ihrer Ordnung nicht überleben, andererseits der Demütigung und Bestrafung durch die Sieger entgehen wollten.
Hitler selbst malte sich aus, wie man ihn in einem Käfig im Triumphzug herumführen werde, selbstverständlich stand ihm das elende Ende Mussolinis vor Augen, der von Partisanen erschossen, kopfüber aufgehängt und zur Schau gestellt worden war. Der Admiral Hans-Georg von Friedeburg, ein untadeliger Offizier, Mitglied im Kabinett Dönitz, vergiftete sich noch am 23. Mai 1945 offenbar in Reaktion auf die Behandlung durch britische Soldaten bei seiner Festnahme.
Es lag in seiner und vergleichbaren Taten immer eine unbestreitbare Würde, ein Ausdruck der Todesverachtung, der Nachvollzug eines Vorbilds – des antiken Feldherrn, der sich nach der Niederlage in sein Schwert stürzte, Catos des Jüngeren, der die Entehrung fürchten mußte und sich deshalb umbrachte –, aber dasselbe wird man für Hitler und seine Umgebung kaum gelten lassen.
Auch die Berufung auf Friedrich den Großen, der während des Siebenjährigen Krieges Gift bei sich trug, überzeugt nicht. Aber den Ausschlag geben doch die Haßausbrüche gegen das eigene Volk und die Entschlossenheit, mit der Hitler oder Goebbels ihre Umgebung in das eigene Ende hineinzogen. Nichts davon hatte menschliche Größe.
Akt der Aufopferung
Aufschlußreich ist auch aus diesem Grund der Kontrast zum Verhalten der japanischen Elite. In Japan gab es anders als im christlich geprägten Europa keinen grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber dem Freitod. Ganz im Gegenteil spielte die Vorstellung eine zentrale Rolle, daß die Selbsttötung in manchen Fällen der einzige Weg für einen Menschen sein kann: um ein Zeichen des Protestes zu setzen, als Akt der Aufopferung für ein höheres Ziel, um die eigene Integrität zu wahren. Unter dem Druck der nationalistischen Staatsdoktrin hatten sich diese Vorstellungen in den dreißiger Jahren allerdings radikalisiert und dazu geführt, daß für die japanischen Soldaten Kapitulation als inakzeptabel galt.
Offiziere begingen mit den Schwertern, die sie als Rangabzeichen führten, „seppuku“ – Tod durch Bauchaufschlitzen – in der Tradition der Samurai, ihre Untergebenen führten in auswegloser Lage einen Vorstoß, der den sicheren Tod bedeutete. Der Rückgriff auf die Kamikazeflieger angesichts der verschlechterten Kriegslage war im Grunde nur eine weitere Konsequenz dieser Vorstellungsweise, die nach und nach die ganze Bevölkerung einem extremen kriegerischen Ethos unterwarf.
Als die Insel Saipan im Juli 1944 in amerikanische Hände fiel, gab der kommandierende General Saitō den letzten Angriffsbefehl und tötete sich dann in Anwesenheit seiner Offiziere. Zahllose Zivilisten, darunter viele Frauen mit ihren Kindern, die ins Gebirge geflohen waren, stürzten sich von den Klippen. Ähnliche Verzweiflungstaten gab es nach dem Ende der Kämpfe um Okinawa, die Tausende von Menschenleben forderten.
„Das Unerträgliche zu ertragen“
Immerhin kam es nicht zu einem kollektiven Suizid des Volkes, wie er von einigen Fanatikern angesichts der drohenden Invasion auf der japanischen Hauptinsel ernsthaft gefordert wurde. Das war vor allem auf den Entschluß des Kaisers zurückzuführen, die Kapitulation zu akzeptieren. Er begründete seinen Schritt ausdrücklich damit, daß er entschlossen sei, auch „das Unerträgliche zu ertragen“.
Derjenige, der ihn als einer der wenigen bei dieser schweren Entscheidung unterstützt hatte, der Heeresminister General Anami, ging allerdings den Weg der Tradition, stieß sich das Kurzschwert in den Unterleib und führte zwei tiefe Schnitte, die indes nicht tödlich waren. Erst am frühen Morgen des 15. August 1945, wenige Stunden bevor der Kaiser über den Rundfunk die Niederlage und das Ende des Krieges bekanntgab, starb Anami an den Folgen seiner Verletzungen. Auch in diesem Punkt der Überlieferung folgend, hinterließ er ein Abschiedsgedicht, in dem es hieß:
„Von seinen Göttern
geschützt wird unser Heimatland
nicht untergehen.
Dem Kaiser sei mein Tod als Sühneopfer
für die schwere Schuld geweiht.“
JF 19/15