Kritik an der Entwicklung der Biotechnik kommt normalerweise entweder von den Lebensrechtlern oder aus der Öko-Bewegung. Die einen meinen, die neuen Techniken führen zu Selektion, die anderen zu einer totalen Unterwerfung des Menschen unter die Gesetze des Marktes: der Mensch würde zunehmend zu einer Ware, zu einem reinen Produktionsfaktor reduziert werden, der hierfür optimiert wird.
Die Argumentation der beiden Gruppen ist gar nicht so verschieden, doch sie kommen kaum zusammen, weil die Linken befürchten, das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Frau könnte eingeschränkt werden, falls das Lebensrechtsthema in diesem Zusammenhang angesprochen wird. Die ideologischen Scheuklappen sind auf linker Seite derart groß, daß die Geschlechtsselektion per Abtreibung (weltweit werden viel mehr Mädchen als Jungen abgetrieben) zwar kritisiert, die Abtreibung als solche aber verteidigt wird.
Hin und wieder einmal gibt es auch in den Mainstream-Medien kritische Töne zur Entwicklung in der Biotechnik, doch auch hier will man nicht sehen, daß es sich im Kern um ein Lebensrechtsthema handelt und die Liberalisierung der Abtreibung im Ursprung der Verdinglichung des Menschenlebens steht.
Ziel: ein „fehlerfreies“ Kind
Ein Beispiel hiervon ist der informative Essay von Melanie Mühl, Autorin von „Die Patchwork-Lüge“, mit dem Namen „Wir optimieren uns zu Tode“ im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. November. Dort weist sie auf die Gefahren des technologischen Fortschritts in der Medizintechnik und benutzt dazu Beispiele der letzten Monate. Melanie Mühl macht sich nicht nur Überlegungen über die neuen Techniken an sich, sondern auch darüber, wie die Gesellschaft sich darauf eingestellt hat und sie akzeptiert.
Anhand folgender Beispiele wird der Frage nachgegangen, wohin uns die Biotechnik führt:
Die britische „Human Fertilisation and Embryology Authority“ (HFEA), die Aufsichtsbehörde für künstliche Befruchtungen, unternahm eine Bürgerumfrage, um festzustellen, ob man Eingriffe in die Keimzellen eines Embryos akzeptieren würde, um Vererbung von tödlichen Krankheiten zu verhindern. Die Umfrage zeigte eine breite Zustimmung zur Korrektur von Gendefekten. Das Verfahren, um das es ging, ist nicht ganz ohne, denn im elterlichen Erbgut werden Mitochondrien eines Dritten implantiert. Das Kind hätte also gentechnisch gesehen drei Eltern. Das Gesundheitsministerium gab daraufhin bekannt, daß es diese Technik gutheiße und unterstütze, so die FAZ.
Der Aufsatz berichtet ebenfalls von der Geburt von Connor Levy, der in einem Labor gemacht wurde, bevor er in eine Gebärmutter eingepflanzt wurde. Doch davor wurde intensiv sein Erbgut decodiert und untersucht, so daß man umfassend über seine Chromosomen Bescheid wußte. Die Methode heißt „Next generation sequencing“ und wird inzwischen regelmäßig bei Retortenkindern angewandt. Connor Levy war das erste Kind, bei dem man diese Technik gezielt zum Auffinden von Anomalien angewendet hat. Ziel war also, ein „fehlerfreies“ Kind herzustellen.
Das dritte Beispiel: Die Firma 23andMe aus Kalifornien bietet Erbgutanalysen für 99 Dollar an. Sie verschickt dafür weltweit „DNA-Kits“. Damit können Eltern sich die Wahrscheinlichkeit von sechs Merkmalen errechnen lassen: Augenfarbe, Laktoseintoleranz, Muskelstärke, Ohrenschmalzkonsistenz, die Fähigkeit, bitter zu schmecken, und die Ausprägung der Hautröte nach Alkoholkonsum. Die Firma legt einen Fragebogen bei, in welchem Wünsche wie „Ich bevorzuge ein Kind mit einem geringen Risiko für …“ angegeben werden können. Pränatale Tests dieser Art führen unweigerlich zur Tötung von Kindern, die nicht den gesellschaftlichen Normen entsprechen, also zu Selektion.
Unangenehme Tatsachen bleiben außen vor
Die Biotechnik entwickelt sich nicht nur rasant schnell, sie wird auch immer erschwinglicher. Die komplette Entschlüsselung des menschlichen Genoms kostete im Jahr 2003 ungefähr drei Milliarden Dollar. Heute muß man für eine komplette Genomentschlüsselung etwa 15.000 Euro ausgeben. Doch hart wird am Tausend-Dollar-Genom gearbeitet. Ist das erstmals erreicht, ist die flächendeckende Untersuchung in Sicht, etwa wie heute die Ultraschalluntersuchung und sonstige pränatale Diagnostik.
Aufgrund dieser Informationen und der Tatsache, daß westliche Frauen immer später Kinder haben wollen – wenn überhaupt –, geht die Autorin davon aus, daß sich die In-Vitro-Fertilisation und die Fortpflanzung überhaupt drastisch ändern werden. Diese Behauptung wird mit den Meinungen von Hank Greely, Professor in Standford, untermauert. Er ist überzeugt, daß es bald sicherer sein wird, ein gesundes Kind mit den gewünschten Eigenschaften und zu einem bestimmten Termin in einem Labor herzustellen als auf natürlichem Wege. Charles Kingsland, Klinikdirektor des Hewitt Fertility Centre in Liverpool, erwartet, daß es bald nicht nur Samen-, sondern auch Eizellenbanken geben wird. Auf diese Weise könnte man sich für ein Kind auch in einem späten Alter entscheiden, ohne sich Sorgen um seine Gesundheit machen zu müssen.
In-Vitro-Fertilisation ist ohne Tötung von Embryonen de facto so gut wie nicht durchführbar. Und die Präimplantationsdiagnostik wurde eigens dafür entwickelt, um die Gesundheit der in die Gebärmutter zu implantierenden Embryonen zu untersuchen und sie gegebenenfalls zu töten. Diese Tatsache wird im FAZ-Artikel mit keiner Silbe angesprochen.
Das Bedürfnis nach Kontrolle in einer durchökonomisierten Welt
Melanie Mühl hinterfragt, ob die sich abzeichnenden Perspektiven nicht nur dem technologischen Fortschritt geschuldet sind, sondern auch den Werten und Prinzipien, die in der modernen Gesellschaft angesagt sind: „Ist nicht in Wahrheit die sterile Methode in einer durchökonomisierten Welt, in der Erwartungen an die Erfolgsbiographien des Kindes groß sind, viel zeitgemäßer als die natürliche? Befriedigt sie nicht unser Bedürfnis nach Kontrolle? Und vor allem nach Risikominimierung? Und ist die Vorstellung nicht faszinierend, von vornherein zu wissen, daß alles nach Plan laufen wird?“
Diese Fragestellungen sind angebracht: Die Haltung zum menschlichen Leben; zum Lebensrecht; zum Recht, in das Leben anderer hineinzuwerkeln. Das alles hängt von der Weltanschauung ab. Diese erhält ihre konkrete Gestaltung wiederum von den philosophischen, moralischen und religiösen Maximen, nach denen man sich ausrichtet. Wer die ganze Verantwortung für die oben beschriebene Entwicklung allein dem Technologiefortschritt zuschiebt, macht es sich zu einfach.
Die Biotechnik entwickelt sich nicht in einem gesetzlosen Raum. Selbst in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien – diese beiden Länder bilden die Avantgarde in Sachen Medizintechnik – ist nicht alles erlaubt, was im Labor möglich ist. In Deutschland ist aufgrund des Embryonenschutzgesetzes die Gesetzeslage noch restriktiver. Doch Melanie Mühl übersieht nicht, daß die Affinität zwischen den existierenden Gesetzen und den Ansichten der gesellschaftlichen Mehrheit immer schwächer wird: „Das ändert allerdings nichts daran, daß der Blick auf das störanfällige System Mensch gnadenloser wird. Gleichzeitig schwindet der Platz für Normabweichungen wie Behinderungen weiter.“
Der Dammbruch war die De-facto-Erlaubnis der Abtreibung
Spätestens an dieser Stelle hätte Mühl einsehen müssen, daß der eigentliche Dammbruch, der den Menschen zunehmend zu einem verfügbaren Objekt macht, die Liberalisierung der Abtreibung war. In Deutschland dürfen Föten mit Behinderungen bis unmittelbar vor der natürlichen Geburt abgetrieben werden (Spätabtreibungen) – ein offensichtlicher Fall von Diskriminierung. Diese Tatsache führt heute zu Selektion und zum Tod von über 90 Prozent der Föten mit Down-Syndrom. Dabei hat Deutschland die UN-Behindertenkonvention unterschrieben, will sich also für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen einsetzen. Melanie Mühl kommentiert: „Tatsächlich aber läuft die Integration behinderter Menschen alles andere als gut, vor allem an Schulen und auf dem Arbeitsmarkt.“ Sie hätte schreiben sollen: Behinderte Kinder dürfen bis zum neunten Monat ganz legal abgetrieben werden. Schade, daß die Autorin nicht den Mut hatte, auf die deutsche Abtreibungsregelung hinzuweisen.
In ihrer Schlußbewertung beschreibt sie eine Szene aus dem Film „Gattaca“ aus dem Jahr 1997, in der ein Elternpaar mit einem Genetiker diskutiert, ob man bei der „Herstellung“ des Kindes nicht manches dem Zufall überlassen könnte. Im Film wird eine Gesellschaft gezeigt, in der genetisch optimierte Menschen über diejenigen herrschen, die auf natürliche Weise auf die Welt gekommen sind. Der Genetiker erklärt den Eltern: „Dieses Kind ist das Beste von Ihnen. Sie können tausendmal natürlich empfangen und nie ein solches Ergebnis erzielen.“ Melanie Mühl schließt mit der Frage: „Und was ist, wenn das Beste doch nicht gut genug ist?“
Melanie Mühl will nicht die letzten Konsequenzen sehen, denn, anstatt diese Frage zu stellen, hätte sie auch schildern können, was heute schon Realität ist: Weil die Pränataldiagnostik zur Feststellung von Krankheiten bei Ungeborenen unsicher ist und deshalb „erwünschte“ gesunde Kinder abgetrieben und „unerwünschte“ kranke Kinder trotzdem geboren werden, ist es in den Niederlanden nun möglich, Kinder (noch in sehr speziellen Fällen) auch unmittelbar nach der natürlichen Geburt zu töten. Einfache Logik: Nur nach der Geburt kann man mit Sicherheit den Gesundheitszustand des Kindes erfahren. Der Tod vor oder nach der Geburt derjenigen, die Qualitätsstandards nicht genügen, ist schon Realität. Dies wahrhaben zu wollen, fällt offenbar schwer.