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Marc Jongen, ESN Fraktion

Interview: „Es darf keine Opfer ersten und zweiten Ranges geben”

Interview: „Es darf keine Opfer ersten und zweiten Ranges geben”

Interview: „Es darf keine Opfer ersten und zweiten Ranges geben”

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Interview
 

„Es darf keine Opfer ersten und zweiten Ranges geben”

Die Thesen des designierten Bundespräsidenten Joachim Gauck zur Singularität des Holocaust sind in Deutschland auf heftige Kritik gestoßen. Gábor Tallai, leitender Programmdirektor des renomierten Museums „Haus des Terrors” in Budapest, nimmt Gauck im Interview mit der JUNGEN FREIHEIT in Schutz und kritisiert die deutsche Gedenkpolitik.
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Cato, Palmer, Exklusiv

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Gábor Tallai: Die kommunistischen Verbrechen dürfen nicht verharmlost werden Foto: www.terrorhaza.hu

Die Thesen des designierten Bundespräsidenten Joachim Gauck zur Singularität des Holocaust sind in Deutschland auf heftige Kritik gestoßen. Linke Journalisten werfen Gauck vor, einen unterschwelligen Antisemitismus zu schüren und den Holocaust zu relativieren. Gábor Tallai, leitender Programmdirektor des renomierten Museums „Haus des Terrors” in Ungarn, nimmt Gauck im Interview mit der JUNGEN FREIHEIT in Schutz und kritisiert die deutsche Gedenkpolitik.

Herr Tallai, erwarten Sie von einem Bundespräsidenten Joachim Gauck, der selbst ins Visier der DDR-Geheimdienste geraten war, einen sensibleren Umgang mit den kommunistischen Verbrechen in Osteuropa und Ungarn?

Tallai: Joachim Gauck ist ein guter Mann, den man in Ungarn hochschätzt. Seine persönlichen Erfahrungen sind wichtig für Deutschland. Europa wird nur zusammenwachsen können, wenn die Erfahrungen Osteuropas mit den totalitären Systemen in ganz Europa zur gewürdigt werden. Ungarn hatte immer auch ein besonderes Verständnis für die deutsche Kultur. Mit Joachim Gauck kommt sicher auch eine wohltuende Sensibilität ins Spiel.

Sie behandeln in ihrem Museum den Nationalsozialismus und den Kommunismus gleichberechtigt. Warum?

Tallai: Schon die Frage ist für einen Osteuropäer schwer zu verstehen. Wie könnte man es anders machen? Unsere Region ist von der Erfahrung zweier aufeinanderfolgender totalitärer Regime geprägt. Der Nationalsozialismus wütete hierzulande einige Monate nach der Besetzung Ungarns durch Hitler, der internationale Sozialismus wiederum von 1945 bis zum Systemwandel 1989. Beide besaßen ein gnadenloses Feindbild: der eine verfolgte und ermordete den ausgewählten Rassenfeind, der andere den gehassten Klassenfeind. Auch die Methoden waren identisch.

Inwiefern?

Tallai: Die Ausübung der totalen Macht, die Gleichschaltung aller Machtzweige, die mediale und institutionelle Hirnwäsche der Gesellschaft. Nicht selten waren es sogar die gleichen Täter, die zu gegebener Zeit einfach den „Arbeitgeber” wechselten. Nehmen Sie nur unser Museum in der Andrássy Strasse 60 in Budapest. Zuerst Zentrale und Folterkammer der ungarischen Faschisten, der Pfeilkreuzer, danach sofort Hauptsitz der kommunistischen Staatssicherheit. Beide menschenfeindliche Systeme wählten ganz bewußt das gleiche Gebäude mitten in Budapest. Jeder sollte wissen, wo lang es geht.

Wie reagieren Sie auf die Kritik, eine gleichzeitige Darstellung nationalsozialistischer und kommunistischer Verbrechen verharmlose den Holocaust?

Tallai: Die Singularität des Holocaust führt zu einem grotesken moralischen Problem. Wenn die Geschichte und Opfer des Holocaust einzigartig sind, spechen wir im Grunde von Opfern ersten und zweiten Ranges. Ist ein ungarischer Mitbürger durch die Nazis getötet worden, gehört er zur ersten Gruppe. Hat ihn das bittere Ende im kommunistischen Gulag gefunden, hat er Pech und er ist ein zweitrangiger Toter. Einfach absurd!

Warum?

Tallai: Stellen Sie sich vor, es gab nicht wenige unserer ungarischen Mitbürger jüdischer Herrkunft, die dem Tod in Auschwitz entkamen, aber kurz nach ihrer Heimkehr von den Sowjets nach Sibirien zur Zwangsarbeit deportiert wurden. Viele von ihnen starben dort einen qualvollen Tot. Sollten Sie diese Frage einem der wenigen Überlebenden stellen, setzen sich lieber einen Helm auf!

Ärgert es Sie, daß in Deutschland die kommunistischen Verbrechen in Osteuropa kaum Beachtung finden?

Tallai: Es tut weh, daß ein wesentlicher Teil Deutschlands sein Herz vor den Leiden der Opfer des Kommunismus verschließt. Der Erfolg linksextremer Bewegungen ist sicher auch auf dieses Phänomen zurückzuführen. Man sagt in Ungarn, nur derjenige ist ein Kommunist, der ihn nie erlebt hat. Die Zeit bringt jedoch Hoffnung. Die junge Generation begnügt sich auch in Ungarn nicht mehr mit herzlosen Halbwahrheiten. (ho)

——

Haus des Terrors: Das 2002 eröffnete „Haus des Terrors“ gilt als einer der wichtigsten Anlaufpunkte für Historiker, die sich mit der Geschichte des Holocaust und des Kommunismus in Ungarn und Osteuropas  beschäftigen. Das von der konservativen „Stiftung zur Erforschung der mittel- und osteuropäischen Geschichte und Gesellschaften“ getragenen Museum beherbergt auf drei Stockwerken zahlreiche Exponate und Bilder, die sowohl die Verbrechen der  Nationalsozialisten als auch der Kommunisten dokumentieren. So waren nach 1945 mehr als 700.000 Ungarn in Viehwaggons für Zwangsarbeiten in sowjetische Arbeitslager deportiert worden. 300.000 kamen dabei ums Leben. Am Tag der Eröffnung gedachten mehr als 100.000 Menschen vor dem Gebäude der Opfern der beiden Diktaturen. www.terrorhaza.hu

Das Interview und eine Analyse der Rede von Joachim Gauck zur Singularität des Holocaust lesen sie in der aktuellen Ausgabe (10/12) der JUNGEN FREIHEIT.

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