Die Angst der deutschen Bevölkerung vor der Atomkraft beruht hauptsächlich auf der Vorstellung, im Falle einer maximalen Betriebsstörung würde die Umgebung großflächig radioaktiv verseucht, sodaß Menschen in sehr großer Anzahl sterben oder schwerwiegend erkranken. Wieviel es tatsächlich sein werden, darüber lassen sich keine genauen Aussagen treffen. Selbst die bisher aufgetretenen Havarien, insbesondere Tschernobyl und Fukushima, werden in der Opferzahl unterschiedlich bemessen. Tschernobyl hat sicherlich 30 Todesfälle in unmittelbarer Folge zu verzeichnen, Atomkraftgegner rechnen zusätzlich mit bis zu 100.000 Todesfällen in den nachfolgenden Jahren, die auf die Kraftwerksexplosion zurückzuführen seien. In Fukushima ist aufgrund der Kraftwerkszerstörung bisher kein Mensch gestorben, Atomkraftgegner erwarten jedoch schon jetzt erhebliche gesundheitliche Nachfolgeschäden.
Die tatsächlichen Opfer einer Atomkraftwerkszerstörung sind nicht mit Sicherheit festzustellen, was aber angesichts der generell unterschiedlichen Wertung von Kraftwerkstoten auch nicht entscheidend ist. Ein Toter, der aufgrund radioaktiver Strahlen in der Nachbarschaft havarierter Atomkraftwerke gestorben ist, wird anders gewichtet als etwa ein toter Bergmann, der Kohlen für ein Kohlekraftwerk geschürft hat. Letzterer hat sich wissentlich und freiwillig der Gefahr ausgesetzt, der Strahlungstote aber gilt als ein unschuldiges Opfer.
Diese Unterscheidung betrifft gleichermaßen die Wertung des Restrisikos der Atomkraftnutzung. Das Risiko, bei einem Flugzeugabsturz um Leben zu kommen, mag milliardenfach höher sein als das Risiko, den Strahlentod zu erleiden, weil zwei Flugzeuge gleichzeitig auf ein Atomkraftwerk abstürzen. Der Flugzeugpassagier hat sich freiwillig in das Flugzeug gesetzt, der Strahlenverseuchte war unschuldig zur falschen Zeit am falschen Platz. Es sei denn, er wohnt in der Nähe eines Atomkraftwerkes.
Risikoverlagerung auf das Nachbarland
Im Umkreis eine Atomkraftwerkes wächst die potentielle Gefahr einer Verseuchung im Falle einer Werkszerstörung mit der Nähe zum Standort und im Prinzip kreisförmig. Aus nationaler Sicht werden aufgrund dieser Überlegung gezielt Atomkraftwerke an der Landesgrenze errichtet. Die Hälfte des Risikos wird damit auf den Nachbarn abgewälzt. Verläuft die Landesgrenze nicht linear, könnten sogar „Landzungen“ genutzt werden, um die eigenen Anteile an der „Risikotorte“ noch weiter zu reduzieren.
Oder es werden wie im Fall vieler japanischer Kernkraftwerke Standorte an der Meeresküste gewählt und Risikoanteile internationalisiert. Wird berücksichtigt, daß radioaktive Partikel auch durch den Wind verbreitet werden können, lassen sich Besonderheiten der Luftströmung ausnutzen. So bietet die Errichtung zahlreicher französischer Atomkraft an der deutschen Grenze einen doppelten Vorteil: Den grenznahen Standort und die überwiegend westliche Richtung des Windes.
Diese partielle Externalisierung der Kosten erhöht die politische Zustimmung im eigenen Land und vermindert den Vorteil, der in der Abschaffung der Atomkraftwerke im Nachbarland gesehen wird. Das abschaltende Land hat zwar immer noch einen Vorteil aus der Beseitigung der Risiken, die sich aus den nationalen Atomkraftanlagen ergeben – sofern diese nicht vollständig externalisiert waren -, eine vollständige Risikobeseitigung ist aber bei grenznahen Nachbaranlagen nicht möglich. Umgekehrt ist der Anreiz für das Nachbarland, seine Atomkraftanlagen ebenfalls abzuschalten, entsprechend gering, weil ein Teil seines Risikos ohnehin durch die Externalisierung bereits „abgeschaltet“ ist.
Vertreibung der technischen Intelligenz
Auf die Möglichkeit der Nachbarstaaten, sich im Falle des Ausstiegs eines Landes aus der Atomkraftnutzung durch den Export der fehlenden Stromkapazitäten zu bereichern, wurde bereits hingewiesen. Ebenso auf die zwangsläufige Folge, daß das Ausland diesen Strom durch noch mehr Atomkraftwerke kostengünstig produzieren wird. Die Kapazitätsausweitung führt jedoch auch bei diesen Stromproduzenten zu steigenden Kosten: die Standorte, insbesondere im grenznahen Bereich, werden knapper. Gleichzeitig vermindert sich die Notwendigkeit, technische Verbesserungen der Stromerzeugung zu entwickeln.
Das quantitative Wachstum genießt höhere Bedeutung als das qualitative Wachstum. Wenn es dabei an gut ausgebildetem Bedienungspersonal mangelt und die hastige Kapazitätsausweitung bauliche und technische Nachlässigkeit verursacht, steigt in der kurzfristigen Tendenz das Risiko der Kernkraftnutzung. Langfristig haben aber die verbleibenden Ländern mit Atomkraftwerken ein Interesse und zugleich aufgrund der Gewinnsteigerungen die finanziellen Mittel, ihre Forschung zu Verbesserung der Reaktorsicherheit zu intensivieren. Umgekehrt verlieren die Techniker und Forscher des abschaltenden Landes ihre inländischen Beschäftigungsmöglichkeiten. Sie werden verstärkt ins Ausland abwandern, vorzugsweise in das grenznahe Gebiet, in dem die Nachbarländer ihre Atomkraftwerke errichtet haben. Dort wird zudem häufig auch noch die Sprache des Nachbarlandes verstanden und gesprochen.
Fazit: Wenn Deutschland die Atomkraftwerke abschaltet, werden die Nachbarländer noch lange nicht mitziehen, die externen Effekte sogar intensivieren. Der Wohlfahrtseffekt in Deutschland wird somit nochmals geringer. Ob das die hohen Kosten, die dabei entstehen, wert ist, obliegt der politischen Entscheidung. Die Bevölkerung sollte zumindest darüber informiert werden. Machbar ist vieles, sogar der Atomausstieg über Nacht, nur über den Preis sollten sich die Akteure im klaren sein, auch wenn sich selbst da noch die Geister scheiden. Wer trotzdem die große Probe aufs Exempel wagen will, muß sich im Falle des Mißlingens rechtzeitig in Sicherheit bringen, bevor ihn der Zorn des Volkes trifft.