Sind es Hunderttausende, sind es Millionen, die in Nordafrika auf gepackten Koffern sitzen, um sich ins gelobte Land Europa aufzumachen? Niemand vermag heute mit Sicherheit zu sagen, wie groß die Einwanderungswelle sein wird, die als Folge der Revolutionen in Nordafrika auf Europa zukommen wird. Sicher ist nur: Die bequemen Zeiten, in denen korrupte Diktatoren sich dafür bezahlen ließen, dem alten Kontinent die Heerscharen der Wohlstandshungrigen vom Halse zu halten, sind fürs erste vorbei.
Wahrscheinlich ist auch: Im Maghreb werden nicht über Nacht Freiheit, Wohlstand und Demokratie ausbrechen; der Überschuß an jungen Männern wird nicht von heute auf morgen mit den Lebensverhältnissen im eigenen Lande zufrieden sein, sondern eher das vorübergehende Zurückweichen der staatlichen Ordnung nutzen, um das Weite zu suchen und in der Fremde sein Glück zu machen.
Europas Aufnahmefähigkeit ist überfordert
Europa hat auf diese Herausforderung keine Antwort. Es herrscht das Sankt-Florian-Prinzip: Wir kümmern uns um die Erstaufnahme der Flüchtlinge, wenn wir sie an die übrigen EU-Staaten weiterreichen dürfen, sagt die italienische Regierung. – So dramatisch wird es schon nicht, Italien kann mit dieser Flüchtlingswelle ganz gut alleine fertig werden, ohnehin liegt das Mittelmeerland im europäschen Vergleich bei der Asylbewerberaufnahme recht weit hinten, so lautet dagegen der Standpunkt der deutschen Regierung.
Niemand aber spricht das Naheliegende aus: Wir Europäer stehen zusammen, um diese Invasion zurückzuweisen, noch bevor sie europäischen Boden überhaupt erreicht hat. Denn dreihunderttausend, fünfhunderttausend oder gar eine Million nordafrikanische Wohlstandsflüchtlinge aufzunehmen, die obendrein zu den besser Ausgebildeten in ihrer Heimat gehören und zu Hause dringend gebraucht würden, um ihre Länder zu modernisieren – das würde die Aufnahmefähigkeit des alten Kontinents überfordern und sein Gesicht weiter drastisch verändern.
Aufbauhilfe von Tunesien als lächerlich empfunden
Statt dessen versuchen Europas Politiker mit faulen Ausreden Zeit zu gewinnen: Man müsse den nordafrikanischen Staaten beim Aufbau von Demokratie beistehen, man werde ihnen helfen, die Lebensverhältnisse in den Heimatländern so zu ändern, daß die Gründe für Emigration langfristig entfallen würden. Aber das kann, wenn überhaupt, erst in Jahren oder Jahrzehnten gelingen; so lange wollen die hoffnungslosen jungen Männer, die jetzt ohne Perspektive auf der Straße stehen, nicht warten.
Die Summen, die für Aufbauhilfe geboten werden, bezeichnen die Übergangsmachthaber selbst als lächerlich. Doch selbst wenn man sie verzehnfachen würde, könnte die Europäische Union Tunesien nicht auf mitteleuropäisches Sozialstaatsniveau anheben.
Für Europa waren die autoritären Regime an der mediterranen Gegenküste sehr komfortabel. Sie funktionierten wie eine Black Box, in die keiner so genau hineinschaute – hineinschauen mochte –, aber gegen maßvolle Subsidien hielten sie zuverlässig die Grenzen dicht. Den mit euphorischen Vorschußlorbeeren als „demokratisch“ gefeierten Jasmin- und anderen Revolutionären kann man dagegen den Zugang nicht so leicht verweigern.
Und noch aus einem anderen Grund fällt es schwer, nein zu sagen, wenn die Glücksuchenden vom südlichen Mittelmeerrand an Europas Türen klopfen: Es ist keine aggressive, fordernde Invasion. Es sind friedliche, bescheidene Menschen, von denen sich nicht wenige mit den einfachsten Arbeiten begnügen würden, nur um ihren Anteil vom Glück zu bekommen. Kann man diesen Menschen einfach die Türe vor der Nase zuschlagen?
Es ist das Dilemma, das der katholisch-konservative französische Schriftsteller Jean Raspail schon 1973 in seinem Roman „Das Heerlager der Heiligen“ beschrieben hat, der nicht zufällig gerade jetzt von den Belesenen unter den Feuilletonisten wiederentdeckt wird: Europa hat sich durch die Moralisierung der Politik selbst entwaffnet.
Eine friedliche Invasion von Heiligen?
Gutmenschentum und Fernstenliebe, die von Lehrern und Redakteuren, Politikern und Kirchenführern unablässig in die Köpfe geträufelt werden, machen den Westen wehrlos gegenüber der friedlichen Invasion, die unter Berufung auf die eigenen universalistischen Werte Ansprüche anmeldet.
„In fünf Stunden wird unser Land (…) seinen seit mehr als hundert Jahren erhaltenen Bestand entweder verloren oder bewahrt haben. (…) In fünf Stunden wird eine Million Einwanderer, die sich nach Rasse, Sprache, Kultur und Tradition von uns unterscheiden, den Fuß auf den Boden unseres Landes setzen. (…) Ihr Schicksal ist tragisch, aber, wenn man weiter denkt, das unsrige nicht minder.“
Wir müssen lernen, nein zu sagen
So spricht in Raspails vor fast 40 Jahren entworfener Vision ein fiktiver französischer Präsident im Anblick der sich nähernden Flotte aus der Dritten Welt. Wo sie strandet, haben die meisten Bewohner das Land verlassen. Begrüßt werden die ausgehungerten Invasoren im Buch nur von „Idealisten“ und „fanatischen Asozialen“, die den aktuellen hypermoralischen Flüchtlingsumarmern nicht unähnlich sind.
Wo das Moralisieren jeden Diskurs bestimmt, wird es unmöglich, unanständig, ja undenkbar, über real existierende Probleme zu sprechen und eigene Interessen zu definieren.Aber genau das muß geschehen. Wir müssen lernen, nein zu sagen. Weil Europa nicht mehr Europa wäre, wenn man seine Bevölkerung austauschte, wie Christopher Caldwell in seinen „Reflexionen über die Revolution in Europa“ konstatiert.
Weil der Wohlstandskuchen nicht unendlich geteilt werden kann. Und weil kein Politiker das Recht hat, seinen eigenen Bürgern, die ihn gewählt haben, Chancen zu nehmen, um sie anderen zu geben. Wie meinte noch Raspails Roman-Präsident? „Feigheit vor den Schwachen ist die wirksamste, durchdringendste und tödlichste Feigheit.“ Es ist keine Fiktion mehr.
(JF 10/11)