Es war rührend zu hören, wie Europa sich auf die Regimewechsel in Nordafrika einen Reim zu machen versuchte. Man müsse, so der Tenor, „der Demokratie zum Sieg verhelfen“, „Werte“ und „Glaubwürdigkeit“ des Westens stünden auf dem Spiel. Das Fernsehen rückte eloquente Studenten – die Twitter-Generation – und unverschleierte Frauen ins Bild. Christliche Kopten in Kairo wurden von muslimischen Landsleuten an die Brust gedrückt. Die tunesische Erhebung wurde „Jasmin-Revolution“ getauft und in die Reihe europäischer Revolutionen der letzten Jahre gestellt, ganz als wollte Europa sich seiner ungebrochenen Vitalität und Handlungsfähigkeit versichern.
Doch in Wahrheit stand die Europäische Union fassungs- und ratlos neben den Ereignissen. Von den Amerikanern hörte man, daß sie in Kairo eifrig an den Strippen zögen, nur hing niemand mehr daran. Als das ägyptische Militär Präsident Mubarak abservierte, konnte das überraschte Washington nur noch zustimmende Kommentare abgeben. Was jetzt in der arabischen Welt passiert, geschieht ohne den Westen und ist von ihm nicht steuerbar.
Ein Drama rollt auf Europa zu
Und das ist erst die Ouvertüre! Die Ankunft Tausender Tunesier – ganz überwiegend junger Männer – auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa läßt uns die Dimension des Dramas erahnen, das auf Europa zurollt. In den politischen und sozialen Revolutionen entladen sich die demographischen Zeitbomben der arabischen Welt. „Die beste Antwort auf die Flüchtlingsströme ist, dafür zu sorgen, daß die Menschen nicht aus Not und Armut das eigene Land verlassen“, weiß Bundesaußenminister Westerwelle. Wie er das nur machen will?
Tunesien zählt 10 Millionen Einwohner. Der Anteil junger Leute unter 25 Jahren beträgt 42 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit 31 Prozent, das jährliche Pro-Kopf-Einkommen 7.200 Euro. Das ist vergleichsweise günstig. In Ägypten, dem mit 83 Millionen Einwohnern größten arabischen Land, liegt der Anteil junger Leute bei unglaublichen 52 Prozent bei ähnlich hoher Arbeitslosigkeit. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt 4.800 Euro. Noch dramatischer stellen sich die Verhältnisse in den besetzten Palästinensergebieten und im Jemen dar.
Es handelt sich um einen „youth bulge“, einen Jugendüberschuß, den selbst die beste Wirtschaftspolitik nicht integrieren und versorgen kann. Die Frustration der überzähligen Söhne kann zu Aggressionen bis hin zur Tötungsbereitschaft führen. Ob dieser voller Saft und Kraft steckende „youth bulge“ sich mit einem moderaten oder militanten Islam ausstattet, entzieht sich der Kompetenz europäischer Feuilletons. >
Nicht der Islam mache die Jugend aggressiv, schreibt der Bevölkerungswissenschaftler Gunnar Heinsohn in „Söhne und Weltmacht“, sondern die Energie der hungrigen, wütenden Jugend sorgt für seine aggressive Aufladung. Selbst wenn nur ein Bruchteil dieser Menschenmassen nach Norden aufbricht, geht es um mehr als ein humanitäres Problem. Dann steht Europa vor der politischen Entscheidung, was ihm wichtiger ist: die eigene, konkrete Existenz oder das abstrakte Flüchtlingsrecht der anderen.
Sind die Europäer dazu überhaupt noch fähig? Der ausgesprochen maskuline, kampfbereite Jugendüberschuß der islamischen Welt trifft auf einen demographisch ausgezehrten, von Sinnkrisen und Schuldkomplexen geschüttelten Kontinent, wo sogar das natürliche Geschlecht als autoritäres Konstrukt der patriarchalischen Gesellschaft in Frage gestellt wird. In Deutschland liegt der Jugendanteil bei lediglich 24 Prozent, darunter ein wachsender Teil Ausländer, die für den Fall offener Verteilungskonflikte als natürliche Verbündete ihrer neueingetroffenen Glaubensbrüder anzusehen sind.
Furcht vor muslimischer Vergeltung
Die letzte deutsche Jugendrevolte, die Massenflucht junger DDR-Bürger, liegt mehr als 20 Jahre zurück. Obwohl die demographischen Verhältnisse in der DDR weit besser lagen als heute, reichte es schon nicht mehr zum „youth bulge“. Entsprechend vollzog sich der Protest in defensiven Formen. Zugleich liegt das Durchschnittseinkommen in Europa weit über dem der Maghreb-Staaten, so daß es hier, salopp gesagt, für die Mutigen und Tüchtigen etwas zu holen gibt. Die Aufregung über den nun wahrlich erwartbaren Flüchtlingsstrom zeigt, daß man sich weder in Brüssel noch anderswo ernsthaft Gedanken über die Sicherung der politischen Existenz Europas gemacht hat.
Die Verschiebung der demographischen zieht die allmähliche Neuordnung der Machtverhältnisse nach sich. Die finanziellen und juristischen Zugriffsrechte von Ausländern in Deutschland beispielsweise sollen diese ruhigstellen; die Deutschen bezahlen sie mit hohen Abgaben und repressiven Gesetzen. Und die Zurückhaltung von Presse, Justiz und Polizei gegenüber der Gewaltkriminalität muslimischer Provenienz findet ihre Erklärung in der Furcht der Amtsträger und Journalisten vor Vergeltung.
Während die islamische Welt auf demographischen Eroberungszug geht, ist China zum wirtschaftlichen Konkurrenten herangewachsen und betrachtet die amerikanische Vormacht Europa als Auffangbecken für die Menschenressourcen der islamischen Nachbarn. Wenn es kein Eigeninteresse dagegenstellt, droht Europa ein ungemütlicher Ort unter vielen zu werden.
(JF 08/11)