Die in meiner letzten Kolumne angestoßene Debatte über ein neues „Dreiklassenwahlrecht“ hat verdeutlicht, wie wenig selbstverständlich heute noch unser politisches System ist, das bis in die ersten Jahre nach der Wende für alternativlos gehalten wurde – und sie hat auch gezeigt, wie vorbehaltlos, frei und sachlich JF-Leser über mögliche Alternativen nachdenken können.
Gleich der erste Kommentator brachte die Grundlinie der Diskussion auf den Punkt: Auch die Demokratie ist als solche diskutabel (obwohl sie von der öffentlichen Meinung oft mit religionsanalogen Zügen ausgestattet wird); und wer diese Fragwürdigkeit anspricht, ist deswegen kein schlechter Demokrat, sondern einer, dem es „um die Sache geht“.
Der philosophische Kopf zeichnet sich nicht dadurch aus, daß er auf alles eine Antwort gibt (wie es für den Ideologen charakteristisch ist), sondern dadurch, daß er sich niemals im allgemein Geglaubten einrichtet und das Fragen – wie ein Kind, nur auf komplexerem Niveau – nicht verlernt hat. Auch wird wer an einer wirklichen Diskussion interessiert ist, in der Argumentation seines Gegners nicht als erstes die Schwachpunkte triumphierend herausstreichen oder ihn gar ad hominem angreifen, sondern jeden Einwand ernst nehmen und zunächst davon ausgehen, daß der Kontrahent Recht haben könnte. Wer nicht „mit dem Hammer philosophiert“, also seine Positionen gründlich abklopft, wird nie zu begründeten Gewißheiten gelangen.
Jede Nivellierung bringt irgendwo eine neue Hierarchie hervor
„Kreuzgefährlich“ nannte ein anderer Kommentator die Diskussion über ein „Dreiklassenwahlrecht“, denn wer legt die Kriterien fest, nach denen Stimmen gewichtet werden könnten, oder wie schafft man eine Elite, ohne bereits eine zu haben? Der eine möchte Kinderreichtum belohnen, der andere sieht darin die Gefahr einer weiteren Proletarisierung der Gesellschaft und empfiehlt eine Verkoppelung von politischem Einfluß und Steuerlast; der dritte plädiert für die Hervorhebung intellektueller Qualifikationen, während der vierte auf die Negativbeispiele rein formaler Pseudo-Bildung verweist.
Das Grundproblem ist offensichtlich: Liberalisierung und Demokratisierung haben wesentlich einen abbauenden Charakter, indem sie unberechtigte, überlebte Privilegien wie natürliche Unterschiede gleichermaßen abschleifen – letzteres mit geringem Erfolg, da sich die Natur gegen alle gesellschaftlichen Verordnungen immer wieder durchsetzt. Trotz dieser Tendenz der Demokratie, immer noch mehr Demokratie „zu wagen“, das heißt gegen jede Form „nicht demokratisch legitimierter“ Differenz zu opponieren, kam auch diese Staatsform niemals ohne Differenzen aus, etwa denjenigen von Freien und Sklaven, Staatsbürgern und Fremden (Gästen oder Feinden), Männern und Frauen, Erwachsenen und Minderjährigen oder von Lebenden und Toten sowie Ungeborenen – heute gleichsam die Leitdifferenz.
Es scheint ein metaphysisches Gesetz zu sein, daß jede Nivellierung irgendwo eine neue Hierarchie hervorbringt. Und es zeigt sich, daß die Demokratie die Grundlagen, auf denen sie beruht, nicht selbst hervorzubringen vermag; möglicherweise gilt dies, aufgrund des vom nächsten Wahltermin beschränkten Horizonts demokratischer Politiker, für die materiellen wie für die ideellen Voraussetzungen gleicherweise (von der gerne als „monarchisch“ kritisierten Marktwirtschaft als Fundament jeden Wohlstandes über die heute so vielbeschworene Bildung bis hin zu ethischen Prinzipien als Säkularisierungsprodukten religiöser Werte).
Ideologisierung durch politisch-korrekte Religionssurrogate
In den Stadtrepubliken der Antike sowie der Renaissance traten diese Defizite aufgrund der Stärke traditionaler, vor- oder außerdemokratischer Strukturen noch nicht im heutigen Maße hervor, obwohl die klassische Lehre von den politischen Verfassungen die Gefahr des Umschlagens in die jeweils spezifische Entartungsform bereits beschrieben hat. Heute sind die Gefahrenpole, zwischen denen sich die liberale Demokratie bewegt, deutlich erkennbar: auf der einen Seite die Herausforderung traditionalistischer, vulgo: extremistischer, Modelle, auf der anderen die Gefahr einer Selbstverhärtung und Ideologisierung durch politisch-korrekte Religionssurrogate.
Mehr Demokratie zu wagen, kann ebensowenig eine pauschale Lösung sein wie der Ruf nach dem starken Mann. Die Demokratie bedarf „undemokratischer“ Eliten wie das Feuer des Holzes: Wer es warm haben will, muß immer ein paar Scheite nachlegen, bevor die Flamme verglommen ist. Und zur Elite gehört weder, wer sich selbst dazu zählt, noch wer einen Multiple-Choice-Test aufgrund seines Medienkonsums halbwegs richtig auszufüllen vermag, sondern wer einen Blick für das Ganze, von vorgestern bis übermorgen, hat.