Als Heinrich von Kleist vor 200 Jahren, am 1. Oktober 1810, die Berliner Abendblätter startete, hatte er bereits eine erfolglose Laufbahn als Dramatiker hinter sich. Das romantische „Käthchen von Heilbronn“, die Komödien „Der zerbrochene Krug“ und „Amphitryon“ oder die wilde „Penthesilea“ – all das kam zu Kleists Lebzeiten kaum auf die Bühne.
„Der Prinz von Homburg“ war sogar mit Aufführungsverbot belegt. Der rasende Dichter verfehlte den Zeitgeschmack, verkörpert vom Weimarer Übervater Goethe. Bei dem fiel Kleist natürlich in Ungnade. Goethes Urteil über „Penthesilea“ lautete: So etwas dürfe sich nicht durchsetzen. Und das „Käthchen“-Manuskript warf er gleich ins Feuer. Tatsächlich gehören Kleists neurotische Charaktere, die das Absolute im Exzeß suchen, vielmehr ins 20. und 21. Jahrhundert als ins frühe neunzehnte.
So blieb der erfolglose Dramatiker ohne Einkommen und wurde von der Schwester als „nutzloses Mitglied der Gesellschaft“ gebrandmarkt. Wenn Kleist dann zur Publizistik wechselte, laut Karsten Krampitz gar den „Revolverjournalismus“ erfand, dann lagen ökonomische Gründe natürlich nah. Aber eben nicht nur. Schließlich bedeutete Kleists Journalismus auch die konsequente Steigerung seiner Dramatik. Als Zeitungsschreiber mußte er sich selbst in einen antiken Dramen-Archetypen verwandeln – in den „Boten“.
Alltägliches ohne Bitterkeit
Der ist nah am Geschehen, aber nicht selbst betroffen. Von Sophokles, Aischylos, Euripdes bis Shakespeare erzählt „der Bote“ dem Publikum vom Ungeheuerlichen, das außerhalb der Szenerie geschah. Nichts anderes tut der Journalist. Wie viele Zeitungen tragen den „Boten“ im Titel! Heute noch gibt es den Walliser Boten, den Boten für Nürnberg-Land, den Hanauer Boten und so weiter.
Kleist, der unter Ausschluß vom Leben litt, konnte sich als Journalist ins Alltägliche stürzen, ohne dessen Bitterkeit zu durchleiden. Und seine Vorliebe für das Bizzare, Absonderliche, auf damaliger Bühne verpönt, fand in Zeitungsanekdoten reißenden Absatz. Gedruckt auf einem Papierformat, das ohnehin mehr einem Theater-Programmzettel ähnelte als einem Tagesblatt.
Der mit Kleist befreundete Polizeipräsident Karl Justus Grune versorgte ihn täglich mit Verbrechen und Unfällen. So las man zum Beispiel in der „Polizeilichen Tages-Mittheilung“ vom 17. Oktober 1810: „Ein Dienstmädchen ist beim Messerputzen plötzlich an einem Blutsturz gestorben.“ Nur dieser Satz, kein Wort mehr! Aber er reicht aus, um in der Phantasie jedes Lesers eine Splatter- und Tragödienbühne zu errichten.
Ins Leben gehen, das heißt: Schritt für Schritt sterben lernen
Ebenso „trashig“ erscheinen die Fälle vom Schöneberger Mordbrenner Schwarz, dem „Entwurf einer Bombenpost“, oder jenem General, der ohne vorherige Leichenwäsche beerdigt werden wollte. Der Grund? Er schämte sich bei dem Gedanken, daß die künftige Leichenwäscherin seine Blöße sehen könne. Was für ein Komödienstoff! Nur hätte da kein Bühnenzensor mitgespielt. Gewürzt mit Kurzgeschichten wie „Das Bettelweib von Locarno“, „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“ und zahlreichen Gedichten war das Berliner Abendblatt ein knalliges Fachblatt für Schund und Sünde.
Dem taten „Unterbrechungen“ durch gelehrte Abhandlungen und Theaterkritiken keinen Abbruch. Kleists literarische Tages-Cocktails lohnen noch heute die Lektüre. Leider ging Polizeipräsident Grune, der unentbehrliche Stofflieferant, bald in Pension. Die Anekdoten blieben aus und die Berliner Abenblätter sanken auf übliches Zeitungsniveau. Nach nur acht Monaten stellte Kleist ihr Erscheinen ein und ging noch einen Schritt weiter. War er vom Dramatiker zum Tragödien-Boten gewandelt, so entschloß er sich jetzt, von der Neben- zur Hauptrolle, zum Tragödienhelden aufzusteigen…
Ein halbes Jahr später, am 21. November 1811, erschoß Kleist sich und seine Freundin Henriette Vogel am Berliner Wannsee. Zuvor hatte er einen Boten (!) losgeschickt, zur Übermittlung der Todesnachricht. Der übergab sie um vier Uhr nachmittags, in exakt jener Stunde, als die tödlichen Schüsse fielen. Damit endete der letzte Akt der Kleist-Tragödie. Ins Leben gehen, das heißt: Schritt für Schritt sterben lernen.