Zu den schönsten Legenden über Wende und Wiedervereinigung gehört die rührende Geschichte, ein Volk habe die Freiheit gesucht. Die Begriffe „Freiheit“ und „Volk“ erscheinen mir in ihrem Gebrauch überhaupt die schwierigsten Zeichen in der Beurteilung von Wende und Wiedervereinigung zu sein.
Politisch und philosophisch waren sie schon immer schwer zu handhaben und daher eher das Vokabular für rührselige Euphoriker und kühle Demagogen. Handlungsfreiheit, also jene der Reise, der Wahl, der Persönlichkeitsentwicklung, wird immer gesucht und kann gewährt oder verwehrt werden; Entscheidungsfreiheit ist und bleibt aber ein philosophisches Problem.
Sicher, einige Intellektuelle versuchten sich in ihren Zirkeln über den Sehnsuchtsbegriff Freiheit zu verständigen. Meist in dem Sinne, inwiefern es der DDR daran gebrach. Aber das „Volk“, jedenfalls den wachen Teil, einte mindestens ein noch klareres Bedürfnis: Nicht mehr belogen zu werden! Wenigstens nicht offen und ungeschminkt.
Der Index ist immer das Interessanteste
Die manipulierte Kommunalwahl vom Frühling 1989 war nur Auslöser der Wut und markierte das Ende der Geduld. Man war es satt, vormundschaftlich behandelt und auf so dümmliche Weise beschwindelt zu werden, daß das Andersensche Märchen von des Kaisers neuen Kleidern dafür nur ein dezenter Ausdruck ist.
Die Statistik log, der Lehrer log, der Hörsaal, das DDR-Fernsehen, die Zeitung. Deshalb die Sehnsucht nach der zweiten Lesart, deshalb die Schlangen an den Theaterkassen und in den Volksbuchhandlungen, deshalb das „Lesen zwischen den Zeilen“. Man bedenke, daß viele Bücher auf dem Index standen. Der Index ist immer das Interessanteste!
Und ab und an zeigten findige Herausgeber doch verbotene Früchte her, ganz abgesehen davon, daß die Belletristik zwar von Klaus Höpcke überwacht wurde, aber schwer einzukreisen war. „Leseland DDR“, das war eigentlich der alltagsgeschichtliche Ausdruck für eine Wahrheitssuche in den freien Künsten. Die Kunstausstellungen selbst wurden ebenfalls so rege besucht, weil man dort Signale erhielt, die die Parteitagslektüre nicht bot.
Ohne Gewalt und ohne Lüge hätte der Sozialismus nicht existieren können
In der Sowjetunion hatte Gorbatschow es mit Glasnost versucht, also mit dem offenen Diskurs. Er scheiterte. Trotz der Gorbi-Fans. Sozialismus und geschichtliche bzw. politische Wahrheit paßten nicht zusammen. Die Offenlegung stalinistischer Lügen und Verbrechen bedeuteten das Ende des Poststalinismus. Ohne Gewalt und ohne Lüge hätte der Sozialismus, so wie es ihn gab, gar nicht existieren können. Es lagen zu viele Leichen im Keller, als daß man einfach nur über sie hätte reden müssen.
Und selbst wenn man die Festtagsrhetorik, ein Volk hätte die Freiheit gesucht, wohlwollend hinnimmt, bleibt einzuschränken: Es wollte damit nicht seine Identität aufgeben, seine ostdeutsche nicht und ebenso wenig seine deutsche. Dieser Verlust begann eher nach der Wiedervereinigung, die historisch erfordert, in mancherlei Hinsicht, gerade wirtschaftlich, aber auch eine „feindliche Übernahme“ war.