Man kann Erika Steinbach, der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, für ihr couragiertes Verhalten auf der Klausurtagung der Führung der Bundestagsfraktion der CDU im Berliner Reichstag vergangene Woche nur allergrößten Respekt zollen. Nicht nur, daß sie Kanzlerin Merkel im Hinblick auf das Verhalten der CDU-Führung gegenüber Thilo Sarrazin widersprach; sie wagte auch, die Haltung führender CDU-Funktionäre gegenüber den Vertriebenenfunktionären Arnold Tölg und Hartmut Saenger zu kritisieren; beide Funktionäre hätten aus der Sicht von Steinbach die Solidarität der Union verdient.
Wörtlich sagte sie in diesem Zusammenhang: „Und ich kann es leider auch nicht ändern, daß Polen bereits im März 1939 mobil gemacht hat.“ Steinbach unterstützte mit dieser Aussage Hartmut Saenger, Mitglied im Präsidium des Bundes der Vertriebenen, der davon sprach, daß Polen bereits im März 1939 mobil gemacht habe und der deutsche Angriff auf Polen nur der zweite Schritt gewesen sei.
Die Reaktion der Fraktionsführung der CDU erfolgte umgehend; der CDU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder sprach von Kriegsschuldrelativierung, und der CDU-Fraktionsvorsitzende Andreas Schockenhoff erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur reuters: „Es muß klar sein, daß es hier nicht um Meinungsverschiedenheiten, sondern um Geschichtsklitterung geht. Eine solche Meinung hat in der Fraktion und der Partei keinen Platz.“ Und weiter: „Der Hinweis auf die Mobilmachung Polens ist absurd – als ob dadurch der Einmarsch Polens ins Deutsche Reich bevorgestanden hätte.“
Die CDU könnte über kurz oder lang vor der Zerreißprobe stehen
Erika Steinbach hat aus all dem ihre Konsequenzen gezogen, und zwar auf eine bemerkenswerte Art und Weise; sie erklärte nämlich, daß sie im November nicht mehr für den Bundesvorstand der CDU kandidieren werde. Als Begründung führte sie an: „Ich habe dort nur noch eine Alibifunktion, die ich nicht mehr wahrnehmen möchte. Ich stehe dort für das Konservative, aber ich stehe immer mehr allein.“
Diese Feststellung könnte für die Union noch drastische Konsequenzen haben, denn der Graben zwischen der CDU-Führung und Teilen der konservativen CDU-Basis, den die Affären um Thilo Sarrazin und Erika Steinbach gerissen hat, wird immer unübersehbarer. Hier zeigt sich eine Entfremdung, die die Partei über kurz oder lang in eine Zerreißprobe führen könnte. Eine Parteispitze nämlich, deren Führung nicht mehr oder nur noch partiell die Anliegen ihrer Basis artikuliert, ist politisch auf Dauer nicht wettbewerbsfähig. Der hier zutage getretene Dissens betrifft ja nicht irgendwelche politischen Rand-, sondern fundamentale Fragen, über die hinweg nicht einfach zur Tagesordnung geschritten werden kann.
Für die Union erscheinen vor diesem Hintergrund zwei Szenarien denkbar: Entweder kommt es in der Führungsregie der Union sukzessive zu nachhaltigen personellen Änderungen – was unter der Regie von Angela Merkel nicht zu erwarten ist –, oder die Partei gerät in eine Krise, die zur Folge haben könnte, daß sich ein Teil der Union abspaltet und in einer Partei rechts von der Union sammelt.
Ausgangspunkt einer tatsächlichen „geistig-moralische Wende“
Möglicherweise hätte eine derartige Partei, die „Fleisch vom Fleische“ der CDU wäre, größere Chancen, die üblichen Verfemungs- und Ausgrenzungsmechanismen (Verfassungsschutz, Medienblockade etc.) abzuwehren, mit denen Parteigründungen rechts von der Union politisch bisher immer wieder der Garaus gemacht werden konnte. Voraussetzung für einen Erfolg wäre weiter, daß dieser Partei die üblichen zermürbenden Richtungs- und Personalkämpfe erspart bleiben, die auch hoffnungsvolle rechtskonservative Parteigründungen nach zum Teil großen Anfangserfolgen zu Splitterparteien herabsinken ließen.
Der Graben, der sich jetzt in der Union geöffnet hat, könnte mit etwas Fortüne zum Ausgangspunkt einer tatsächlichen „geistig-moralische Wende“ werden, von der vor gut 25 Jahren nicht mehr als heiße Luft übrigblieb.