Vertriebenenstiftung, Gesundheitsreform, Steuersenkungen: Die neue Bundesregierung ist noch nicht einmal einen Monat im Amt und hat doch schon durch turbulente Dispute unter den Koalitionspartnern für Schlagzeilen gesorgt. Der Eindruck, CDU, CSU und FDP hätten sich am 27. September als eigentlich schon immer füreinander bestimmte Wahlverwandte endlich die Hand zum Bunde reichen dürfen, ist verflogen. Es stellt sich daher die Frage, ob er denn überhaupt jemals auf Tatsachen gegründet war.
Ein Rückblick auf die vier Jahre der „Großen Koalition“ legt es nahe, diese Frage zu verneinen. Union und SPD harmonisierten bis zur Ununterscheidbarkeit, so daß ihre gemeinsame Politik pauschal von „rechts“ als „sozialdemokratisch“ und von „links“ als „neoliberal“ attackiert werden konnte. Meinungsunterschiede wurden insbesondere vor Wahlen augenzwinkernd herbeigeredet, um den Bürgern in der Not der Entscheidung beizustehen, wer denn nun das kleinere Übel wäre. Hier bewahrheitete sich zudem, daß Koalitionen Regierungshandeln nicht erschweren, sondern eher für stabile Verhältnisse sorgen: Jeder Partner kann glaubhaft machen, daß das, was unter seiner Mitwirkung geschieht, von ihm gar nicht gewünscht, sondern nur mit der Faust in der Tasche ertragen wird, und auf diese Weise Stimmen von Wählern auf sich ziehen, die die Regierungspolitik eigentlich ablehnen.
Ausgerechnet in den letzten Monaten hat die SPD in diesem Spiel jedoch eine derartige Formkrise ereilt, daß Angela Merkel in die undankbare Lage hineinmanövriert wurde, die FDP an den Kabinettstisch bitten zu müssen. Vielleicht wäre dies zu verhindern gewesen, wenn die Sozialdemokraten in Erkenntnis ihrer Schwäche auf die Aufstellung eines eigenen Kanzlerkandidaten verzichtet und eine eindeutige Koalitionsaussage zugunsten der Union gemacht hätten. Dazu fehlte aber dieser Partei, die weiterhin die sentimentale Erinnerung an den immensen Wählerzuspruch in der Brandt- und Schmidt-Ära mit sich herumträgt, diesmal noch der Mut.
Der FDP hingegen scheint schon zu Beginn der neuen Legislaturperiode klar zu sein, was die Stunde geschlagen hat. Sie weiß, daß Reformen, auf die manche Bürger vielleicht tatsächlich gutgläubig hoffen, nicht mehr zu leisten sind und es statt dessen gilt, den de facto eingetretenen Staatsnotstand bestmöglich zu verwalten. Ihre schonungslose, öffentlich geäußerte Kritik am Koalitionspartner ist ein verzweifelter, an den Wähler gerichteter Aufschrei: Man müßte alles anders machen, aber es geht nicht mehr.