Aus dem Problem der Rückgabe jüdischen Vermögens ist in den vergangenen Jahren ein polnisches geworden. Der zwischen 1939 und 1944 „arisierte“ Besitz jüdischer Bürger verblieb nach Kriegsende auf dem Gebiet der späteren Volksrepublik Polen zu etwa 80 Prozent in Staatsbesitz. Für Verzögerung und Verschleppung der anfangs erhofften Rückgabe zeichnete zunächst die kommunistische Führung um Generalsekretär Władysław Gomułka und Präsident Bolesław Bierut verantwortlich. Deren Untergebene in der zentralen Staatsverwaltung wiesen die Provinzvertretungen mehrfach nachdrücklich darauf hin, daß eine umfassende Nationalisierung von Privatbesitz bereits 1948 bevorstehe. Folglich erscheine die „voreilige“ Rückgabe von Vermögen, das ohnehin verstaatlicht werde, „nicht angemessen“. Mehrere Verstaatlichungswellen bis 1962 zementierten im nachhinein faktisch die deutschen Unrechtsgesetze.
Dabei bildet das jüdische Hab und Gut lediglich einen Teil des beschlagnahmten Privatbesitzes. Laut einer Schätzung des Dachverbandes von Organisationen für Rückgabeforderungen (OPOR) liegt dessen Gesamtwert bei 85 Milliarden Złoty (etwa 20 Milliarden Euro). Der Betrag berücksichtigt das gesamte 1944 bis 1962 verstaatlichte Privatvermögen im Nachkriegspolen – unabhängig von der Volkszugehörigkeit des Besitzers. Diese Summe läßt die Nutzungsrechte und die daraus in 60 Nachkriegsjahren geflossenen Gewinne aber außer acht. Und letztere übersteigen mitunter den gegenwärtigen Verkehrswert des jeweiligen Streitobjekts.
Wenn also 80 Prozent ehemals jüdischen Vermögens Staatsbesitz geworden sind, dann hat zwar die Mehrheit der polnischen Normalverbraucher wenig damit zu schaffen – um so mehr aber seine Regierung, die seit ihrem Amtsantritt im Oktober 2007 diesbezüglich unter immensem diplomatischem Druck steht. 2008 forderte der US-Kongreß sie öffentlich zur unverzüglichen Beschleunigung der Rückgabeverfahren auf. Präsident George W. Bush tat dies unmißverständlich über sein Außenministerium. Noch weniger Wohlwollen erntete der liberalkonservative Premier Donald Tusk im Juni in Prag bei der internationalen Konferenz zur Vermögensrückgabe an Holocaust-Opfer. Dort verwickelte sich der Regierungsvertreter Władysław Bartoszewski in geradezu blamable rhetorische Rückzugsgefechte.
Von allen EU-Ländern hat lediglich Polen keine Gesetzesregelungen zur Rückgabe von konfiszierten Privatvermögen erlassen – ähnlich wie das autoritär regierte Weißrußland. Von den 13 Regierungen der nachkommunistischen Demokratie gingen nur zwei die Frage der Eigentumsrückgabe offensiv an. Dem Kabinett von Hanna Suchocka (1992–1993) blieben nur 15 Monate. Die konservative Regierung von Jerzy Buzek (1997–2001) boxte zwar ihr Gesetz (es sah eine Entschädigung von 50 Prozent des Zeitwerts beschlagnahmter Güter vor) durch Sejm und Senat. Es scheiterte aber am Veto des postkommunistischen Präsidenten Aleksander Kwaśniewski, der es auf Anraten seiner Wirtschaftsfachleute zu Fall brachte.
Knapp zwei Dutzend weitere Gesetzesentwürfe scheiterten schon im Frühstadium. Die klamme Staatskasse mag einer der Gründe dafür gewesen sein, die Angst vor einer Rückgabeforderungsflut ein anderer. Eine Entschädigung für deutsche Vertriebene, die vor 1939 Bürger des Deutschen Reiches waren, war in keinem Fall vorgesehen. Das Kabinett Tusk jedenfalls hatte sich anfangs für eine Flucht nach vorn entschieden. Wohlwissend, daß die Rückgabe weder innen- noch außenpolitisch durchzuhalten ist, legte es sein eigenes Projekt vor. Dieses sieht eine Entschädigung von 20 Prozent des Zeitwerts des konfiszierten Privatvermögens für die 1944 bis 1962 Enteigneten (oder deren Nachkommen) vor. Diese Regelung betrifft sowohl polnische Juden als auch Deutsche, die bis 1939 den polnischen Paß besaßen. Einen Weg ins Parlament fand das Projekt freilich genausowenig wie seine Schöpfer den Mut, es gegenüber dem In- und Ausland offensiv zu verteidigen. Statt dessen laviert die Regierung zwischen Volk und Jewish Claims Conference.
Bescheidene Erfolge kann Tusk nur bei der Rückgabe von jüdischem Gemeinschaftsvermögen vorweisen, das ursprünglich religiös oder kulturell-gesellschaftlich genutzt wurde. Bis Ende Januar 2009 erhielt die hierfür zuständige Regelungskommission 5.504 Rückgabe- bzw. Entschädigungsanträge, von denen sie 1.511 zu einem vorläufigen oder endgültigen Abschluß brachte. Zu den 400 Vergleichen und 279 Schiedssprüchen (gänzlich oder teilweise) zugunsten der Betroffenen gesellen sich 501 Verfahrenseinstellungen (zu Ungunsten der Antragsteller), 216 Ablehnungen und 46 Nichtberücksichtigungen. Überdies wurden sechs Verfahren aufgehoben – die Tusk-Taktik lautet: Abweisung vor Entschädigung.
Wer geglaubt hat, der ängstliche Zickzackkurs der Tusk-Koalition würde eine machtvolle Opposition auf den Plan rufen, sieht sich getäuscht. Ehemalige Wähler der sozialkonservativen PiS entsinnen sich sehr gut an das Versprechen einer angemessenen Entschädigung von Enteigneten. Die Regierung von PiS-Chef Jarosław Kaczyński machte dann einen Vorschlag über ganze 15 Prozent des Zeitwerts – das Projekt landete im parlamentarischen Grab. Seitdem gibt der enteignete Wähler (Soziologen schätzen die Zahl auf bis zu 2,5 Millionen) nichts auf Parteien und kämpft lieber vor Gericht als im Parlament.
Tusk wollte sein Vorhaben zum Großteil über den Verkauf von Staatsbesitz bzw. über Staatsoptionsscheine finanzieren – die Weltwirtschaftskrise machte ihm aber einen Strich durch die ungedeckte Rechnung. Das hält die Betroffenen freilich nicht davor zurück, vor Gericht zu ziehen. Ein Anwaltsverband rechnet bereits in Kürze mit etwa 60.000 Prozessen um enteignetes Vermögen. Der Gesamtstreitwert dürfte 30 Milliarden Zloty (etwa 7,5 Milliarden Euro) wohl nicht unterschreiten.