Dieses Europa des dritten Jahrtausends läßt uns nur die Halloween-Kürbisköpfe und nimmt uns unsere wertvollsten Symbole“, erklärte Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone vorige Woche. Die Nummer zwei im Vatikan rief dazu auf, „mit allen Kräften die Zeichen unseres Glaubens zu bewahren“. In Italien werde aber „niemand Kreuze aus den Schulklassen entfernen. Dieses Urteil ist ein besorgniserregendes Signal der antigeistlichen Tendenzen in Europa und bezeugt, wie gefährlich der Laizismus in unserem Kontinent ist“, verkündete der italienische Europaminister Andrea Ronchi.
Seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (ECHR/Application 30814/06), wonach Kruzifixe nicht in Schulklassen hängen dürfen, hagelt es Kritik an den Straßburger Richtern. Das Urteil fordert den italienischen Staat auf, der aus Finnland nach Italien eingewanderten Klägerin Soile Tuulikki Lautsi eine „Entschädigung“ von 5.000 Euro zu zahlen. Ihre Kinder Dataico and Sami Albertin könnten das Kruzifix im Klassenzimmer als religiöses Symbol wahrnehmen. So unterschiedlich die Meinungen in Italien sind, inwieweit sich die Kirche ins Leben des Einzelnen einmischen darf – diese Entscheidung hat nicht nur fromme Katholiken, sondern auch linke Politiker empört. „Ganz Italien schart sich um das Kruzifix“, titelte treffend Il Tempo. Lediglich Altkommunisten wie PRC-Generalsekretär Paolo Ferrero und einige Linksliberale begrüßten das Urteil.
Europa verkenne die Rolle des Christentums für die Formung der europäischen Identität, erklärte Vatikan-Sprecher Federico Lombardi. Die ECHR-Richter hätten das Kruzifix als „Zeichen der Trennung, des Ausschlusses oder der Freiheitsbeschränkung gesehen“, dabei sei es „immer ein Zeichen des Angebots der Liebe Gottes und der Einheit der Offenheit für die ganze Menschheit“. Kurienkardinal Walter Kasper, der Präsident des Rates für die Einheit der Christen, rief die christlichen Politiker auf, „endlich Farbe zu bekennen und ihre Stimme laut zu erheben“. Er tadelte den Richterspruch im Corriere della Sera als „ideologisch“ und sprach von einem „aggressiven Säkularismus“. Es könne nicht angehen, daß sich die Mehrheit nach einer Minderheit richten müsse.
Die italienische Regierung hat Berufung gegen das Urteil eingelegt. Für Premier Silvio Berlusconi ist dieses Urteil „nicht nachzuvollziehen und hinterläßt tiefe Zweifel am wahren Europa-Gedanken“. Bildungsministerin Mariastella Gelmini warf den Richtern eine ideologisch verengte Sichtweise des Kreuzes vor. Es sei keineswegs nur ein religiöses Symbol, sondern ein Symbol der italienischen Kultur. Wer das Kreuz entferne, beseitige einen Teil der italienischen Identität.
Die Kulturkritikerin Ida Magli schrieb im Il Giornale, „sich in die religiösen Traditionen einzumischen, bedeute sich in die Seele eines Volkes einzumischen“. Die Geschichte Italiens, die Kunst und die Schönheit dieses Landes seien nur aus der Bindung zum Christentum entstanden. „Religion ist keine Währung“, so Magli. Der Zusammenschluß Europas bedeute nicht, „daß man die Seelen-Gefühle der verschiedenen Nationen ebenso rigoros behandeln könne“.
„Europa ist weit weg von den Leuten, es handelt im Widerspruch zu dem, was die Bürger wollten“, sagte Reformenminister Umberto Bossi anläßlich des Staatsbegräbnisses der Lyrikerin Alda Merini im Dom zu Mailand. Seine rechte Lega Nord hat eine Unterschriftensammlung für das Kruzifix gestartet.
Während der Oberrabiner von Rom, Riccardo Di Segni, das Urteil als Beitrag zur religiösen Offenheit und Toleranz begrüßte, gesellte sich ein Muslim-Vertreter zu den Kreuzbewahrern: Scheich Abd al-Wahid Pallavicini, Präsident der Italienischen Islamischen Gemeinschaft, erklärte, aus Sicht des Islam sei das Urteil nicht zu billigen. Bei allen Vorbehalten gegen figürliche Darstellungen achteten auch Muslime das Bild des Gekreuzigten als Verweis auf den Geist Gottes.
Der Bürgermeister von San Remo, Maurizio Zoccarato, ließ aus Protest ein zwei Meter hohes Kreuz vor dem Rathaus aufstellen. Zudem ordnete er Kontrollgänge in den kommunalen Schulen an, um dort das Kreuz aufzuhängen, wo es derzeit fehlt. Im norditalienischen Galzignano Terme wird diskutiert, nun in allen öffentlichen Gebäuden ein Kreuz aufzuhängen. Die westlombardische Gemeinde Büsti Gràndi (Busto Arsizio) setzte sogar die Europafahne auf Halbmast. Der ECHR ist zwar keine EU-Einrichtung, sondern eine des Europarats, die Fahne ist allerdings identisch. Zudem sieht man plötzlich immer mehr Jugendliche mit Kreuz um den Hals in die Schule gehen. Um die Klägerin Soile Lausi, die jahrelang tönte, den „Kampf für ihre Kinder“ geführt zu haben, ist es hingegen still geworden. Sie schweigt und fühlt sich mit ihrer Familie von „katholischen Taliban“ bedroht.
Foto: Kruzifix unter der Europaratsfahne: Wer das Kreuz entfernt, beseitigt auch einen Teil der italienischen Identität