London, 1937. Der zehnjährige Peter Zadek, Sohn deutsch-jüdischer Emigranten, sitzt mit seinen Eltern im Theater. Gegeben wird, natürlich, Shakespeare. In „The Merchant of Venice“ (Der Kaufmann von Venedig) spielt der legendäre John Gielgud die Rolle des Shylock, zeigt ihn derart widerlich-monströs, daß der kleine Peter Angst bekommt und die Mutter ihn beruhigen muß.
Man übetreibt nicht, wenn man hier von seinem Schlüsselerlebnis spricht. Dreimal sollte Zadek diese Komödie inszenieren – die erste Version zu Beginn, die dritte am Ende seiner Karriere. So bildet „Der Kaufmann von Venedig“ einen Rahmen um Zadeks wichtigste Jahre als Regisseur. „Näher kann mir nichts gehen“, gestand er später über das Stück und die Shylock-Figur.
Im Alter von 21 Jahren begann er als Regisseur. Die erste Inszenierung: Oscar Wildes „Salomé“ mit Zadeks damaliger Frau in der Titelrolle. Es folgten harte Lehrjahre in der englischen Provinz, wo man ihm eine Inszenierung pro Woche abverlangte!
1960 besorgte er die Londoner Uraufführung von Jean Genets „Le balcon“ (Der Balkon, 1959) – sein erster Eklat. Aber nicht beim Publikum, sondern beim Dramatiker Genet. Der verließ wutschnaubend die Proben und erklärte den Journalisten: Er, Genet, sei der Autor und folglich „der Boß“, aber Zadek inszeniere das Stück nicht in seinem Sinne. Den Vorwurf, gegen sogenannte „Werktreue“ zu verstoßen, wird der Regisseur nie mehr los. Doch nicht nur er. Das gesamte – von Zadek mitbegründete – „Regietheater“ führt bis heute einen Grabenkampf gegen das Autorentheater, wie die Salzburger Rede von Daniel Kehlmann jüngst gezeigt hat.
Während sein Kollege Peter Stein das Theater als Literaturseminar begriff, riß Zadek die Grenze zwischen Hochkultur und Boulevardtheater nieder, führte es – wie zu Shakespeares Zeiten – zum Jahrmarkt zurück. Grell, comicartig, voll Nacktheit und Blut waren seine Shakespeare-Inszenierungen der siebziger Jahre, mit denen er seinen Skandalruhm begründete. Das hiesige Publikum reagierte entsetzt, zumal es – im Gegensatz zur englischen Bühne – nicht über die Tradition eines „Theatre of Blood“ verfügte.
Leider verhinderte die grelle Sensationsästhetik und seine Selbstinszenierung („Ich will kein Intellektuellen-Theater. Ich will Schocks“) bei vielen Zeitgenossen die Erkenntnis, daß Zadeks Theater vor allem Freiräume aufsprengte. So galt der „Kaufmann von Venedig“ in der Nachkriegszeit als hochbrisant. Zu antisemitisch schien die Figur des Shylock gezeichnet, zu arg hatten NS-Regisseure ihn der Rassenideologie dienstbar gemacht. Spielt es nie wieder! lautete ein Edikt von Rolf Hochhuth.
Hier schoß Zadek quer. Der Shylock seines „Kaufmanns von Venedig“ (1961) war eine scheußliche Karikatur, ein „Stürmer-Jude“, wie er selber kommentierte. Dessen Darsteller, Hans Mahnke, litt während der Proben unter Gewissensqualen. Nach der Premiere ging der junge Hellmuth Karasek zu Zadek, lobte die Inszenierung, aber fragte auch: Wie kannst du – als Jude – einen solch antisemitischen Shylock zeichnen? Zadeks Antwort: Gerade weil ich Jude bin, kann ich das.
Mit seinem spektakulären Tabubruch wollte der Regisseur demonstrieren, daß Shakespeare mit Shylock keinen antisemitischen Charakter geschaffen hatte. Denn so gruselig man ihn auch darstellt, er bleibt sympathisch, in seinen Handlungen nachvollziehbar.
27 Jahre später spielte Gerd Voss den Shylock, und Zadek inszenierte ihn – auf der Subebene – mit dem Habitus eines SS-Mannes. Aber die Shylock-Figur überstand selbst das. So hatte der Regisseur das Trauma, das Gielguds Interpretation hervorrief, endlich – nicht verdrängt, sondern überwunden.
Die kompromißlose Lust am Tabubruch bewies Zadek auch bei anderen Themen. Die Fernsehproduktion „Rotmord“ (1968), angelegt als szenische Revue über die Münchner Räterepublik 1919, zeigte nicht nur die Morde an den Revolutionären, sondern auch deren Liquidierung „reaktionärer“ Gegner.
Ein Jahr später problematisierte „Ich bin ein Elefant, Madame“ (1969) die 68er-Revolte. Zadek mischte Interview-Szenen in die Spielhandlung, ließ alle Seiten zu Wort kommen, linke Studenten wie empörte Bürger. Ein Student beklagte sich, der Regisseur leiste nur der Politikverdrossenheit Vorschub, wenn er – im Jahr 1969, wo die Linke schon wieder abgeschwächt sei, die Restauration hingegen zunehme – „in dieser Situation einen Film mache, wo alle Seiten gleichmäßig angegriffen werden und alle Seiten in Frage gestellt werden“.
Aber Zadek war kein Parteigänger, war Gegner jeder Zensur und forderte Diskussion bis an die Schmerzgrenze. Als 1985 in Frankfurt am Main über einen Aufführungsstopp von Faßbinders Drama „Der Müll, die Stadt und der Tod“ debattiert wurde, forderte Zadek die Aufführung. Obwohl auch er das Stück für antisemitisch hielt, glaubte er, das deutsche Publikum sei fähig, sich damit auseinanderzusetzen. Als konsequenter Aufklärer hielt er das Volk für mündig. Diese Toleranz nahm bizarre Züge an, als Zadek in einem Interview erklärte: Er habe nichts gegen Antisemiten, „solange sie mich nicht umbringen“. Selbst einige seiner besten Freunde seien aufgrund ihrer Sozialisation Antisemiten.
Während seiner Hamburger Intendanz schuf er 1988 seine umstrittene Inszenierung von Wedekinds „Lulu“ – eine Hommage an die Zähigkeit und Durchhaltekraft der deutschen Trümmerfrau. Auch hier ließen sich Publikum und Kritik durch spektakuläre Erotikszenen allzusehr vom Kernthema ablenken.
In den letzten Jahren bot Zadek nur noch Routine, darunter einen langweiligen „Peer Gynt“ am langweiligen Berliner Ensemble.
Wirkliche Freigeister sind selten. Mit Peter Zadeks Tod in der vergangenen Woche verlor die Theaterwelt einen.
Foto: Regisseur Peter Zadek (1926–2009): Diskussion bis an die Schmerzgrenze