Wir fordern faire Marktbedingungen, um unser Einkommen am Markt erwirtschaften zu können“, erklärt Romuald Schaber. Er ist Vorsitzender des 1998 gegründeten Bundes Deutscher Milchviehhalter (BDM). Dessen nach eigener Aussage 30.000 Mitglieder produzieren etwa die Hälfte des in Deutschland erwirtschafteten Milchvolumens. Schabers Interessenverband fordert – nach Vorbild Kanadas –, die Angebotsmenge an Milch möglichst exakt an die Nachfragemenge anzupassen, etwa zwei- bis drei Mal pro Jahr. Hierdurch wäre es möglich, einen vernünftigen Preis zu erzielen, der den Milchbauern erlauben würde, ohne staatliche Zuschüsse ihre Existenz „als Marktteilnehmer“ zu sichern und dadurch gleichzeitig eine regionale Ernährungssouveränität zu gewährleisten. Der Lösungsansatz des BDM unterscheidet sich fundamental von dem des Deutschen Bauernverbandes (DBV), der größten landwirtschaftlichen Berufsvertretung. Der DBV unter Präsident Gerd Sonnleitner wolle sich einer vermeintlich alternativlosen „Liberalisierung“ in der EU unterwerfen und dafür „mit Subventionen abgefunden“ werden, so Schaber gegenüber der JUNGEN FREIHEIT.
Entsprechend deutlich sind auch die Differenzen beider Verbände, wenn es um die aktuellen Vorschläge geht, um die Not der Milchbauern zu lindern. Dies begründet sich Schaber zufolge allein schon in der unterschiedlichen Interessenvertretung. Während der DBV (zu dem als assoziiertes Mitglied der Bundesverband der privaten Milchwirtschaft gehört) letztlich die Interessen der Molkereien und damit eines ungebremsten Exports vertrete, sehe der BDM seine Verantwortung im Erhalt eines heimischen Marktes. So verlangte Sonnleitner eine abermalige Exportförderung für die deutschen Milchproduzenten, im Deutschlandfunk machte der DBV-Chef die Finanzkrise mitverantwortlich für die Milchbauernmisere: Man habe Exportmärkte verloren, „Märkte in Ländern, die keine Rohstoffe mehr verkaufen können, deren Kaufkraft gesunken ist, deren Währung abgestürzt ist“. Ähnlich denkt Franz Fischler, ehemaliger EU-Agrarkommissar in Brüssel. Im Deutschlandradio erklärte der ÖVP-Politiker, daß Deutschland als großer Milchexporteur sein Heil nur in neuen Absatzmärkten suchen könne – notfalls mit staatlichen Hilfen. Zugleich kritisierte Fischler, daß Deutschlands milchverarbeitender Sektor in der Vergangenheit „nicht innovativ genug“ gewesen sei, um etwa neue Produkte zu entwickeln. Statt dessen hätten sich die Betroffenen zu lange auf staatliche Interventionen verlassen. Laut Fischler ist der Einbruch am Markt weniger auf die von der EU stetig erhöhte Quote des Milchvolumens zurückzuführen (wie DBV und BDM glauben), sondern auf die verschwundenen Abnehmer in der Industrie, die inzwischen – insbesondere seit dem letzten Milchstreik – auf Ersatzstoffe umgestellt hätten.
Immer mehr Milchbauern in ihrer Existenz bedroht
Allerdings teilt auch Fischler die Ansicht des BDM, der zufolge es den Milchbauern bislang an „Verhandlungsgewicht“ mangelt, wie Schaber es formuliert. Wie fatal dies ist, zeigt sich anhand der Zahl der um ihre Existenz bangenden Betriebe. Laut einer vom BDM bei Infra-Test in Auftrag gegebenen Umfrage gaben fünf Prozent der Milchbauern an, bei der bestehenden Marktlage – mit einem Milchabnahmepreis von etwa 20 bis 24 Cent – das nächste Vierteljahr nicht zu überleben. Sollte die derzeitige Situation gar ein halbes Jahr anhalten, wären 20 bis 30 Prozent der Milchbauernhöfe akut bedroht, bei einer Dauer von einem Jahr gar zwei Drittel. Ein erster Schritt hiergegen ist das Aktionsbündnis „Die faire Milch“ des European Milk Board. Der 2006 gegründete EMB, so die Abkürzung, versteht sich als Dachverband europäischer Milcherzeugerorganisationen und bäuerlicher Interessenvertretungen, dessen Ziel darin besteht, „Milchpreise zu erreichen, die die Vollkosten der Milcherzeugung decken“. Sichtbarster Ausdruck dieses Ansinnens ist zunächst die in je landestypischen Farben gestaltete Kuh „Faironika“. Sie soll in möglichst naher Zukunft auch als Produktetikett funktionieren: Als Ausweis für eine in der Region produzierte und zu fairem Preis gehandelte Milch.
Einen prominenten Auftritt hatte Faironika Anfang Mai, als über 200 Milchbäuerinnen aus Protest gegen die Brüsseler Milchpolitik vor dem Kanzleramt campierten und einige von ihnen in den Hungerstreik getreten waren. Ihre Forderung nach einem Gespräch mit Angela Merkel, die sich in Brüssel für einen europäischen Milchgipfel einsetzen soll, blieb damals ohne Erfolg. Der umgetextete Kanon von „Frère Jacques“ dürfte die Kanzlerin dann aber doch erreicht haben. In ebenso anrührender wie hilfloser Weise hatten die Bäuerinnen damals gesungen: „Schwester Angie, Schwester Angie / Schläfst du noch, schläfst du noch? / Hörst du nicht die Bauern, hörst du nicht die Bauern? / Milchpreis hoch, Milchpreis hoch!“ Gleichwohl: Das Fernbleiben der Kanzlerin dürfte die Union bei der Europawahl Zehntausende Stimmen kosten. So erklärte die Milchbäuerin Bärbel Hellwig: „Ich werde zur Wahl gehen, die CDU ankreuzen und dann den Zettel ungültig machen, damit sie sehen, wen sie verloren haben!“
Offenbar ist zumindest dem Unionsteil der Bundesregierung angesichts des jüngsten Traktorkorsos durch Berlin bewußt geworden, welche „Riesenenttäuschung“ (O-Ton der Bäuerinnen vor dem Kanzleramt) sie im Stammwahlvolk ausgelöst hat. Anläßlich des Brüsseler Milchgipfels hat Agrarministerin Ilse Aigner nun den deutschen Bauern Zinsverbilligungen für längerfristige Kredite zugesagt. Zudem würden die Bauern bei der Agrardiesel-Steuer stärker entlastet – bislang herrschte hier aus Sicht der deutschen Bauern große Ungerechtigkeit: Während die Bauern in Frankreich nur 0,6 Cent Steuer pro Liter Agrardiesel zahlen mußten, waren es in Deutschland 40 Cent. Das ist übrigens derselbe Preis, den die deutschen Milchbauern für die Abgabe eines Liters Milch verlangen müßten, um ohne staatliche Unterstützung bestehen zu können.