Aufgeregt tippt Amalya Kofyra auf ihrem Mobiltelefon. Auf dem Anzeigefeld erscheint ein Bild. Es zeigt einen großen Müllberg, vielleicht zehn Meter hoch. Alte Reifen sind zu sehen, Plastikflaschen, löchrige verschmutzte Hemden, Altpapier. Weitere Gegenstände sind nur noch als grauschwarze klebrige Masse auszumachen. Die 20jährige angehende Krankenschwester ruft ein zweites Foto auf. Darauf ist ein kleiner Fluß zu sehen. Dessen Wasser fließt nicht mehr. Es ist schwarz wie Öl. „So sieht es heute bei uns aus“, sagt die junge Frau. Sie wohnt auf Korfu. Die Insel im griechischen Mittelmeer ist hierzulande als Urlaubsparadies bekannt. Doch im Landesinnern häufe sich Schmutz und Dreck an.
Die EU habe Geld für Recycling zur Verfügung gestellt. „Aber das versickert in den Taschen der Politiker“, beklagt Kofyra. Es ist die Machtlosigkeit, die sie wütend macht, die Ohnmacht vor einem System, das es nicht ermöglicht, die Verhältnisse zu ändern – das nicht zuläßt, daß die frischgebackene Abiturientin ihren EU-Abgeordneten direkt wählen kann, um der Person ihres Vertrauens ihre Stimme zu geben. Deswegen ist sie nach Rom gekommen: zu Libertas, jener vom irischen Polit-Aktivisten und Multimillionär Declan Ganley (JF 3/09) gegründeten gesamteuropäischen, aber zugleich dezidiert EU-kritischen Partei. Bei einer Volksabstimmung in Irland vor einem Jahr hatte die Organisation erfolgreich für eine Ablehnung des Lissabonner Vertrags gekämpft. Im Februar wurde Libertas vom Präsidium des EU-Parlaments als erste europäische Partei anerkannt, die nicht auf einer Infrastruktur nationaler Parteien fußt. Am 1. Mai hatte Libertas zum ersten „paneuropäischen Konvent“ in die italienische Hauptstadt geladen.
Wie ein Entertainer betritt Ganley unter dem Jubel der etwa tausend Konvent-Teilnehmer die Bühne des futuristischen Auditorium Parco della Musica von Rom. „Wir sind das Volk“, ruft er ihnen entgegen. Er versprüht eine Atmosphäre, die an den alljährlichen Eurovision Song Contest erinnert. „Wo ist Frankreich?“ fragt Ganley ins Plenum. Jubel auf der Loge. Nationalflaggen werden geschwenkt, spontan wird die Marseillaise gesungen, bei der auch Nicht-Franzosen mit einstimmen.
Auch andere Länder machen sich lautstark bemerkbar, als von der Bühne nach ihnen gefragt wird, schwenken ihre Fahnen, jubeln. Deutschland ist dagegen nur rar vertreten. Ganze vier kleine Fähnchen schwenken verhalten in der Luft, als die bevölkerungsreichste europäische Nation aufgerufen wird – gerade mal zwei mehr als beim Zwergstaat Malta. In Deutschland und Österreich scheiterte Libertas schon an den notwendigen Unterstützungsunterschriften für den Antritt zur EU-Wahl am 7. Juni (JF 16/09).
Die Reden der anderen Libertas-Politiker kommen ebenfalls an. Sowohl der langjährige französische Europaabgeordnete Philippe de Villiers (Präsident der rechtsbürgerlichen Partei Mouvement pour la France/MPF) als auch der bislang parteilose spanische Jurist und Unternehmer Miguel Durán werden mit stehenden Ovationen bedacht. „Ich möchte gemeinsam mit Declan ein neues Europa finden. Ein weißes und kein schwarzes Europa“, betont Durán, der diesen Satz näher erläutert. Da er blind sei, lebe er in ständiger Dunkelheit. Und er möchte nicht, daß das zukünftige Europa ein dunkles Europa werde. Daher setze er seine Hoffnung in die Bürger der EU und nicht in dessen Funktionäre. Und: „Wir brauchen eine verständliche EU-Verfassung, nicht so etwas wie den Lissabon-Vertrag.“
Die Harmonie wird gestört, als Ganley einen prominenten Überraschungsredner ankündigt. Ex-Staatspräsident Lech Wałęsa sorgt bei vielen der zahlreich anwesenden polnischen Vertreter für Unmut. Immer wieder wird der einstige Vorsitzende der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarność von Zwischenrufen aus der Loge unterbrochen. Unten im Parkett springen weitere Polen von ihren Sitzen auf, ballen die Faust, begleitet von unfreundlichen Worten in Richtung ihrer Wałęsa angreifenden Landsleute.
Wałęsas Zeit sei vorbei, sein Ruf in Polen nicht mehr der beste, raunt man sich draußen im Foyer zu. Laut Berichten polnischer Medien stehe der einstige Danziger Werftarbeiter zudem in dem Ruf, nur gegen hohe Honorare Reden zu halten, von 50.000 Euro war zu hören. Zudem habe er erst einen Tag zuvor eine Rede beim Kongreß der Europäischen Volkspartei (EVP) in Warschau gehalten. Darüber hinaus wird dem 65jährigen vorgeworfen, er habe als IM „Bolek“ für die polnische „Stasi“ (SB) gespitzelt (JF 23/08). „Das ist nicht der Weg, um ein freies Europa zu bauen“, hält Wałęsa den Zwischenrufern entgegen. Ganley nimmt seinen Gastredner in Schutz: „Wir brauchen mehr Helden in Europa, wir brauchen mehr Leute wie Lech Wałęsa“, verteidigt er den Friedensnobelpreisträger.
Auffällig: Besonders die jüngere Generation ist auf dem Konvent stark vertreten. Das hat seinen Grund. Gerade bei ihnen hatte Ganley für seine Ideen geworben – in Bulgarien, Litauen, der Slowakei, Slowenien oder der Tschechei. Es sind zumeist Schüler und Studenten im Alter zwischen 16 und 28 Jahren. Weil sich viele von ihnen eine Reise nach Rom nicht leisten konnten, hatte Ganley sie kurzerhand eingeladen.
„Ich glaube schon, daß Libertas in der Zukunft eine Rolle im EU-Parlament spielen wird“, ist eine 18 Jahre alte Litauerin überzeugt. Doch die neue politische Kraft wird in ihrem Land nicht zur Wahl antreten. In 15 anderen Ländern sei man dagegen mit Kandidaten vertreten. Viele der Anwesenden sind zwar noch nicht Mitglied bei Libertas. Darum gehe es aber auch noch nicht. Sich untereinander kennenzulernen, sich mit den Zielen von Libertas vertraut zu machen: Das stehe zunächst im Vordergrund. „Die Bewegung ist noch sehr jung. Aber unsere ersten Eindrücke sind positiv“, meint die Schülerin.
Auch Matej Gnidovec hat sich von der Libertas-Euphorie anstecken lassen. „Gestern habe ich von meiner Nachbarin eine Einladung bekommen. Und heute bin ich hier “, erzählt der 17jährige, wie spontan er zum Konvent gekommen war. Der Schüler hatte kurzerhand seine Sachen gepackt und war mit weiteren Freunden von seiner slowenischen Heimatstadt Laibach (Ljubljana) aufgebrochen, um nach einer achtstündigen Busfahrt am nächsten Morgen in Rom dabeizusein. Vom Konvent ist er begeistert. „Großartig. Es herrscht eine tolle Aufbruchstimmung.“ Die Macht in Europa müsse von den Bürgern ausgehen, nicht von Bürokraten, stimmt er Ganleys Ideen zu.
In einem symbolischen Akt unterzeichneten die Libertas-Spitzenkandidaten der einzelnen EU-Mitgliedsländer eine Petition. Jedes Land wird darin aufgefordert, eine Volksabstimmung durchzuführen, sollten weitere Souveränitätsrechte einzelner Mitgliedstaaten per Verfassung oder Staatsvertrag auf die EU übertragen werden.
„Es ist Zeit, Europa den Menschen zurückzugeben“, appelliert Ganley an die Konvent-Teilnehmer. Ein Satz, der Amalya Kofyra Mut macht – und sie hoffen läßt, daß eine demokratischere EU die Verhältnisse in ihrer Heimatregion ändern könnte. Ob das zu schaffen sei, beantwortet Ganley während seiner Rede in Barack-Obama-Manier: „Yes, we can.“
Mehr im Internet: www.libertas.eu , www.libertas-deutschland.de
Foto: Junge Gäste beim Libertas-Kongreß: Eine verständliche EU-Verfassung statt des Lissabon-Vertrags?