Ein goldenes Wort zur Zeit sprach kürzlich Werner Pirker in der Jungen Welt: Die „antideutsche Unkultur“ sei zur bundesdeutschen „Leitkultur“ aufgestiegen. Tatsächlich wetteifern hiesige Eliten nur mehr darin, deutsches Schuldbewußtsein zu fixieren. Den kollektiven Identitätszwiespalt zementieren sie institutionell durch permanente Vergangenheitsbewältigung. Eine Facette davon zeigt das Gezerre um sogenannte NS-Raubkunst.
Die Rede ist vom zehnjährigen Streit um Museumsschätze in Deutschland, aber auch im Ausland. Er will die Eigentumsverhältnisse an Kunst neu aufrollen. Hatte die alte Bundesrepublik redlich versucht, NS-Unrecht durch zahlreiche Entschädigungsgesetze zwischen 1952 und 1969 zu kompensieren, ergab sich 1990 die Chance nachzufassen und Kunstvermögen „umzuverteilen“. Amerikanischer Druck erzwang nicht nur das Einlenken der Schweizer Banken und den milliardenschweren deutschen Zwangsarbeiterfond. 1998 erfaßte er auch das Kulturgut.
Nach der Beschlagnahme zweier Bilder Egon Schieles in New York Anfang 1998 initiierte der Moma-Ehrenvorsitzende und Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald Lauder, die Washingtoner Konferenz, auf der 44 Länder und 12 (jüdische) Nichtregierungsorganisationen sich zur Rückgabe von in den NS-Zeit „entzogenem“ Kulturgut verpflichteten. Die neuen „Vermutungsregelungen“ für den Verlust damaliger Wertgegenstände unterstellen den generellen Einfluß der Zeitumstände auf allen Geschäftsverkehr, auch im Kunstsektor.
So gerät alle Kunst ins Visier, die zwischen 1925 und 1945 den Besitzer wechselte und sich zumindest temporär in jüdischer Hand befand. Galt als Kriterium ehrlichen Erwerbs zuvor der reelle Kauf beim authentischen Vorbesitzer, steht nun die Vita vieler Kunstwerke seit achtzig Jahren in Frage. Das ursprüngliche Datum jüdischen Besitzes soll sämtliche Nacheigentümer brechen. Denn die zunächst nicht rechtsverbindliche Washingtoner Erklärung 1998 zwingt durch deutsche Nachfolgedokumente („Gemeinsame Erklärung“ 1999 und „Handreichung“ 2001/2008 von Bund und Ländern) unsere Museen per Beweislastumkehr, die lupenreine Herkunftsgeschichte („Provenienz“) ihrer Werke darzutun.
All das erschüttert die kulturellen Institutionen und weckt weltweit Begehrlichkeiten. Seit 2000 kommt es zu spektakulären Restitutionen, zumal in Deutschland und Österreich, doch auch in Holland. Publik werden nur prominente Fälle – so 2006, als das Brücke-Museum Ernst Ludwig Kirchners „Berliner Straßenszene“ verliert (JF 49/06), das Wiener Belvedere mit fünf großen Bildern Gustav Klimts gar seine Ikonen der Belle Époque. Von den sogleich verkauften Stücken ersteigert sich Ronald Lauder Kirchners „Straßenszene“ für 30 Millionen Euro und Klimts „Adele Bloch-Bauer I“ für 135 Millionen US-Dollar.
Jetzt geht der Kunststreit in eine neue Runde. Aufsehen erregte der Entscheid des Berliner Landgerichtes gegen das Deutsche Historische Museum in Sachen Sammlung Sachs. Der jüdische Sammler Hans Sachs (1881–1974) hatte eine 12.500 Blatt umfassende Plakatsammlung zusammengetragen, die er bei seiner Emigration 1938 zurückließ. 1961 entschädigte die Bundesrepublik ihn für diesen Verlust mit 225.000 D-Mark – eine Summe, „die alle meine Ansprüche gedeckt hat“, wie er schrieb. Daß 4.300 in Ost-Berlin aufgefundene Blätter dort archiviert wurden, machte ihm Freude.
Trotzdem beansprucht sein Sohn dies heute auf 13 bis 14 Millionen Euro geschätzte Kontingent für sich. Enttäuscht vom neutralen Schiedsspruch, forcierte er jetzt eine Zivilklage. Am 10. Februar entschied das Berliner Landgericht überraschend gegen das Museum: Es muß die „rote Bulldogge“, Emblem des Simplicissimus, herausgeben. Das Gericht begründete sein Urteil unter anderem damit, daß auch der 1961 erfolgter Abschluß eines Vergleichs vor einer Wiedergutmachungskammer nicht zum Erlöschen von Vater Sachs’ Eigentum geführt habe, weil die Plakatsammlung zu diesem Zeitpunkt als verschollen galt.
Dieser Ausgang schockiert selbst Juristen, galt doch als ausgemacht, daß Einspruch gegen NS-Hoheitsakte nur nach geltenden Rückerstattungs-, Entschädigungs- und Vermögensgesetzen, nicht aber zivilrechtlich möglich sei. Dieses politische Urteil eröffne eine Prozeßlawine.
Anfang April beantwortete die Stuttgarter Landesregierung eine Anfrage der FDP nach Provenienzforschung und Restitution in Baden-Württemberg. Tatsächlich, so Dietrich Birk, seien in den vier großen Landesmuseen „Tausende“ von Kunstobjekten fraglich, in der Staatsgalerie allein über 1.000 bedeutende Stücke. Gleichzeitig sprach Uwe Hartmann, Leiter der 2008 in Berlin vom Bund neu errichteten Forschungsstelle, von bundesweit über 10.000 betroffenen Kunstwerken.
Zeitgleich schlug ein Interview Wellen, das Norman Rosenthal am 6. April dem Spiegel gab. Der britische Kunstexperte, selbst Nachkomme deutsch-jüdischer Eltern, sprach sich aus für ein Ende des Restitutionszirkus. Der Museumsfachmann solidarisiert sich mit betroffenen Kuratoren und lehnt die Reprivatisierung von Kunst ab. „Wir sollten (…) im Auge behalten, daß der Kunstmarkt in den vergangenen Jahren explodiert ist und Begehrlichkeiten geweckt hat. Die Leute, die da mitverdienen wollen, erinnern mich an Aasgeier.“ Während nur Erik Stephan aus Jena zustimmte, rollte ein Sturm der Entrüstung über Deutschland hinweg. Zahlreiche Verantwortungsträger, bis hin zu den Spitzen von Preußischem Kulturbesitz und Bundeskanzleramt verwarfen Rosenthals Gesprächsangebot als Ansinnen des „Schlußstrichs“. Statt den Impuls dankbar aufzugreifen und öffentlich umzusteuern, schmettern sie die Verantwortungsposaune.
Unbeeindruckt von deren moralischem Gestus, hat sich längst zynisch ein höchst profitabler Geschäftszweig etabliert. Der umfaßt eine Vielzahl Beteiligter, die je tatkräftig zusammenwirken. Provenienzforscher auf eigene Faust und Restitutionsexperten in Auktionshäusern oder Anwaltskanzleien durchkämmen Sammlungsgeschichten und Museumsbestände systematisch nach Schwachstellen. Sie stöbern ahnungslose Nachkommen auf, die sich dann zu Erbengemeinschaften formieren. Im Verein mit rührigen Anwälten, heißen Auktionshäusern und interessierten Lobbys wie der Claims Conference geht es rüstig, je nach Sachlage voran. Ist man erfolgreich, winken den Kunstexperten Prozente, Juristen Stundenhonorare à 1.500 Euro und Erfolgsprämien, während sprungbereite Auktionshäuser schon mal Vorschüsse in siebenstelliger Höhe auszahlen. Hängt man fest, initiiert man Kampagnen wie 2005 gegen die Wiener Ministerin Elisabeth Gehrer (ÖVP), die US-Medien verhöhnten, sie lege sich „mit Nazis ins Bett“. So etwa sieht der „erhebliche moralische Druck“ aus, dessen sich zum Beispiel Monika Tatzkow rühmt, die mit ihren Publikationen maßgeblich das Restitutionskarussell antreibt. Selbst wenn – wie im „Fall Lissitzky“ um Paul Klees „Sumpflegende“ im Münchner Lenbachhaus – der Nachfahre verzichtet, treibt die Erbenvertretung weiter, sind doch zu viele Interessenten involviert. Wer sollte Anwälte und Experten am Ende honorieren?
Derweil heizen internationale Konferenzen und Ausstellungen der jüdischen Museen (so in Berlin und Frankfurt) das Thema weiter an. Rechtliche und moralische Agenden alternieren je nach Bedarf: So rief erst Peter Sachs die überparteiliche Runde („Limbachkommission“) an; jetzt probiert er den Rechtsweg aus. Schlägt der anderswo fehl, beklagen Russen die Stadt München nun vor einem US-Gericht. Das kann zwar die Herausgabe Klees nicht erzwingen, doch „moralischen Druck“ erzeugen. Zumal auch Bund und Länder und die Staatengemeinschaft fordern, am Ende solle „fair und gerecht“, soll heißen: stets „moralisch“ entschieden werden. Auch Bernd Neumann stellt dem Interesse der Museen, ihr Kulturgut zu bewahren, die „moralische Verantwortung“ entgegen, „die wir haben und die ohne Zweifel wichtiger ist“.
Er bezeugt den fehlenden Widerstand deutscher Eliten angesichts nicht enden wollender Ansprüche im Zeichen einer vermeintlich universellen, doch korrumpierten Moral, deren jedes zweite Wort Auschwitz lautet. Tatsächlich sind die fortlaufenden Entschädigungswellen, so auch die neueste Kunstrestitution, Kinder der Wende. Erst das Ende von Kaltem Krieg, Öffnung des Ostens, Globalisierung und weltweite US-Präsenz, dazu die Anarchisierung politischer und rechtlicher Zuständigkeiten, schließlich die Explosion des Kunstmarkts haben die fatale Drift ermöglicht.
Voraussetzung zudem: der ökonomische Fundamentalismus der turboliberalen Chicago boys, die alles auf die Kapitalfunktion reduzierten. Erst hier verschwand Gemeinwohlorientierung im Privategoismus. Verbindet der sich dem zivilreligiösen Götzen, dem antifaschistischen Schuldreflex, entsteht ein metapolitisches Machtsyndrom als Letzthorizont unserer Zeit. Jahrzehntelang gaben deutsche Eliten die Würde von Staat und Nation preis. Es fehlte an Phantasie, eine Ethik der Institutionen aufzubauen. Die wäre vonnöten, unendlicher Zumutung die Stirn zu bieten.
Derweil geht es voran.
Foto: Die „rote Bulldogge“, von Thomas Theodor Heine (1867–1948) AX Markenzeichen der Zeitschrift „Simplicissimus“: Das Deutsche Historische Museum muß das Plakat herausgeben