Wenn des Nachts in der Lausitz die Wölfe heulen, dann ist sie wieder da, die uralte Angst der Menschen vor dem gefräßigen Raubtier. Und diese Furcht wollen sich einige Jäger zunutze machen – für sie gehört der Canis lupus nicht in die deutschen Wälder. Sie fordern den gnadenlosen Abschuß – weniger aus Sorge um die Menschen, wie sie vorgeben, sondern weil sie den Wolf als Konkurrenten bei der Jagd nach Rot-, Schwarz- und Rehwild betrachten.
Vor ungefähr zehn Jahren haben sich in Deutschland wieder Wölfe fest angesiedelt, es gibt inzwischen sechs Rudel, alle im Grenzgebiet zwischen Sachsen und Brandenburg in der Lausitz. Doch die Panik vor dem Tier, die älter ist als das Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf, ist unbegründet. In Europa ist nicht ein Fall belegt, in dem die Wölfe Menschen angegriffen hätten.
Der Wolf meidet den Menschen, wo er kann. Das belegt ein gerade veröffentlichtes Experiment mit einem einjährigen Rüden aus der Lausitz. Die dortigen Wildbiologen hängten dem Tier einen GPS-Sender um den Hals, um seine Wege nachvollziehen zu können. Das Ergebnis überrascht zumindest die Laien. Das Tier blieb nicht auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz in der Muskauer Heide, wo der Rest der Familie zu Hause ist. Es ging auf Wanderschaft. Innerhalb von zehn Tagen lief der junge Wolf gut 150 Kilometer bis zum märkischen Treuenbrietzen, bevor er sich auf den Rückweg machte. Gesehen hat ihn dabei niemand. Die Tiere verfügen über einen ausgezeichneten Geruchssinn und wittern Zweibeiner, lange bevor diese auf das seltenste Säugetier Deutschlands (Naturschutzbund) aufmerksam werden können.
Inzwischen leben in Deutschland bis zu 50 dieser scheuen Tiere. Relevant sind jedoch nicht die sogenannten Durchzügler, die – meist aus Polen kommend – nach paarungswilligen Partnern Ausschau halten, aus Mangel an Artgenossen selten fündig werden und wieder verschwinden. Von Bedeutung für die Rückkehr des Wolfs nach Deutschland sind allein die Rudel, die Familienverbände, in denen die Tiere in der Regel zwei Jahre bei ihren Eltern bleiben.
Da den Raubtieren die Inzucht fremd ist, brauchen sie buchstäblich frisches Blut, um sich fortpflanzen zu können. Also ziehen die Jungtiere los, ein neues Revier zu suchen. Mit viel Glück finden sie einen Partner aus einem nicht verwandten Rudel. Erst dann kann sich der Wolf vermehren. Allerdings benötigt er absolute Ruhe vor den Menschen. Es ist kein Zufall, daß sich die Tiere auf dem früheren Truppenübungsplatz bei Bad Muskau niedergelassen haben. Den Menschen ist der Zutritt wegen Explosionsgefahr verboten.
Die beiden Wildbiologinnen Gesa Kluth und Ilka Reinhardt erforschen die deutschen Rudel in der Lausitz, ohne sie mit eigenen Augen beobachten zu können. Denn selbst erfahrenen Wissenschaftlern gelingt es nur äußerst selten, die scheuen Tiere zu Gesicht zu bekommen. Meist müssen deren Hinterlassenschaften genügen, um näheres über sie zu erfahren. Dazu dienen vor allem der Kot – in der Fachsprache Losung genannt – und die Spuren der Pfoten.
Die Frauen vom Wildbiologischen Büro „Lupus“ in Spreewitz betreuen aber auch die Anwohner. Denn die Panikmache der Jägerschaft und das durch Mark und Bein gehende Geheule der Weibchen verbreiten Angst. Die Tiere bellen nicht etwa den Mond an, wie es in alten Überlieferungen heißt, sondern sie rufen nach einem Partner. Zahlreiche Hunde fühlten sich in der Lausitz angelockt, machten sich in der Dämmerung auf in den Wald und deckten eine Wölfin. Die dabei entstandenen Hybriden fingen die Wildbiologen wieder ein und gaben sie in Tierparks. Denn durch die Gene der Haustiere könnten die Nachkommen ihre natürliche Scheu vor dem Menschen verlieren – dann hätte Deutschland in der Tat ein durch Wölfe verursachtes Raubtierproblem.
1844 schossen deutsche Jäger den letzten Wolf in Brandenburg. Die Ausrottung des angeblichen Menschenfressers wurde damals gefeiert. Mehr als 160 Jahre später sitzen die Vorurteile zwar immer noch tief, doch konnten die Einwohner in der Lausitz ob der Informationen der Wissenschaftler inzwischen beruhigt werden.
Das Heulen empfinden sie nicht mehr als bedrohlich, sondern als Bestandteil der Natur – ebenso wie den Ruf des Habichts oder das Röhren der Hirsche. Umweltschutzorganisationen halfen bei der Aufklärung. Vor allem das Projekt „Willkommen Wolf!“ des Naturschutzbundes (Nabu) unterstützte die Arbeit der Wildbiologinnen vor Ort.
Geblieben war zunächst die Sorge der Schäfer. Denn in der Tat macht auch unter Tieren Gelegenheit Diebe. Statt sich auf die anstrengende Jagd nach Rehen oder Sauen zu begeben, bedienten sie sich auf den Weiden mancher Landwirte. Solche Attacken machten Schlagzeilen.
Vor allem für die Boulevardpresse, die von Angst und Panik lebt, waren die Angriffe ein gefundenes Fressen. Auf Bildern sieht man Wölfe in diesen Blättern grundsätzlich nur mit gefletschten Zähnen. Gezeigt wurden selbstverständlich auch die gerissenen blutverschmierten Kadaver. Inzwischen sind diese Zwischenfälle die absolute Ausnahme. Die Schäfer haben sich mit Unterstützung der Naturschützer Elektrozäune zugelegt.
Nach dem Problem mit dem Wolf kümmert man sich nun auch um die Probleme des Wolfs. Der Nabu will ihm bei seinen Wanderungen helfen. Mehrere Tiere waren bei Verkehrsunfällen getötet worden, weil Grünbrücken und Querungen fehlten, moniert Nabu-Präsident Olaf Tschimpke.
Andere fielen der Büchse zum Opfer: „Auch die illegale Tötung eines Wolfs darf kein Kavaliersdelikt mehr sein, sondern ist eine Straftat und muß als solche auch konsequent verfolgt werden. Dauerhaft werden nur Wölfe in Deutschland leben, wenn der Mensch es zuläßt“, mahnt Tschimpke.
Daß die Wolfsgegner unter den Jägern ihr Handwerk nicht waidgerecht verstehen wollen, macht die wichtige Funktion des Raubtiers als Korrektiv deutlich. Er reißt nicht nur die alten und schwachen Tiere. Er schützt auch den Wald, und der muß den der Hege verpflichteten Jägern wichtig sein. Denn fast alle deutschen Forsten leiden unter dem Verbiß durch Wild. Junge Bäume gehen ein oder wachsen krumm, weil Rehe und Hirsche ungebremst die frischen Triebe abknabbern. Ihnen fehlt der natürliche Feind. Der Wolf bringt die Natur wieder ins Gleichgewicht.
Foto: Wolf: In der Boulevardpresse sieht man die vermeintlichen Menschenfresser nur mit gefletschten Zähnen, dabei wollen sie bloß ihre Ruhe haben