Herr Professor Weggel, alle reden von China als „kommender Großmacht“. Weggel: Nicht erst heute, sondern schon im 18. Jahrhundert war das „fernöstliche“ Reich mit seinen „Chinoiserien“ und seiner märchenhaften Produktivität – es erwirtschaftete über ein Drittel des damaligen Welt-Bruttoinlandsprodukts (BIP) – ein Hauptgesprächsgegenstand an den europäischen Höfen gewesen. Doch dann hatten innere Unruhen, vor allem aber der 1840/41 gegen England verlorene Opiumkrieg den einst so strahlenden Subkontinent politisch zum kranken Mann Asiens, wirtschaftlich aber zum schlafenden Riesen werden lassen – und dies mehr als ein Jahrhundert lang. Erst 1949 gab es wieder einen souveränen chinesischen Staat, der 1971 auch einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat erhielt. Doch blieb der prognostizierte Aufstieg zur Großmacht aus. Weggel: Dies lag daran, daß China den Maoisten in die Hände fiel, die dem Land zwar die Unabhängigkeit bescherten, es aber gleichzeitig in einen Strudel von „Zwei-Linien-Kämpfen“, „sozialistischen Erziehungsbewegungen“ und „Kulturrevolutionen“ hineinrissen, die nicht nur Wirtschaftswachstum verhinderten, sondern 20 bis 40 Millionen Hungertote kosteten. Es dauerte Jahrzehnte, bis China sich wieder „renormalisieren“, also zu der seinen Größenverhältnissen entsprechenden Bedeutung zurückkehren konnte. Auf welches Jahr würden Sie diesen Umschwung datieren? Weggel: Die Wende kam 1978, als es den Reformern um Deng Xiaoping gelang, den Arbeitsschwerpunkt der KPCh vom Klassenkampf auf die Modernisierung zu verlagern. Damit war die Schaffung des „Neuen Menschen in einer Neuen Gesellschaft“ auf den Sankt-Nimmerleintag verschoben und stattdessen das wirtschaftliche Wachstum zum Hauptziel erhoben worden. Nicht mehr der gesellschaftliche, sondern der wirtschaftliche Fortschritt sollte jetzt zählen. Damit hat sich China de facto vom Kommunismus verabschiedet. Offiziell hat es nie einen Abschied gegeben. Wie kommunistisch ist China heute? Weggel: Als Staats- und Gesellschaftsprinzip ist der Kommunismus mausetot. Übriggeblieben sind die Nomenklatura, die kommunistische Phraseologie und das offizielle Credo, daß die Volksrepublik an ihrem hundertsten Geburtstag, also 2049, ins Stadium des Sozialismus eintreten werde. Wird es den Kommunismus dann überhaupt noch geben? Weggel: Ganz bestimmt nicht. Ich rechne ab etwa 2020 mit einer Demokratisierung Chinas. Diese wird sich vermutlich, ähnlich wie im Taiwan der achtziger Jahre, in einem Dreischritt vollziehen: Wachsender Wohlstand, Entstehen eines breiten Mittelstands, Verlangen nach Mitbestimmung auch in gesamtpolitischen Fragen. Spätestens dann wird die KPCh Macht abgeben und mit anderen teilen müssen: So etwa wie die KPdSU im heutigen Rußland. Warum sollte die KP, anders als 1989, als Panzer rollten, bereit sein, die Macht zu teilen? Weggel: Ein Massaker nach dem Tiananmen-Muster von 1989 kann ich mir im heutigen Übergangszustand nicht mehr vorstellen. Die Geschichte zeigt, daß aufstrebende Mittelschichten Diktaturen herausfordern – sich aber ebensogut auch mit ihnen verbünden können. Weggel: Bei China habe ich da wenig Angst, da die dortigen Bürger dem Staat – oder besser der häufig korrupten Bürokratie – kaum Vertrauen entgegenbringen. Ist sich die KP der Gefahr bewußt? Weggel: Ganz gewiß. Doch kann sie dem Demokratisierungsprozeß kaum noch in die Speichen greifen, nachdem sie im Interesse wirtschaftlichen Wachstums so viele Liberalisierungszugeständnisse gemacht hat. Während beispielsweise Wirtschaftsbetriebe in maoistischer Zeit noch fast ausnahmslos unter direkter Steuerung des Staates standen, werden sie heutzutage von autonomen Firmenleitungen geführt. Auch die Provinzen besitzen mittlerweile viel mehr Eigenständigkeit als früher. Selbst wenn die KP zur Demokratisierung bereit sein sollte – kann sich China das überhaupt leisten? Werden nicht die ethnischen und sozialen Konflikte aufbrechen und das Reich in Stücke reißen? Weggel: Was ethnische Konflikte anbelangt, so haben sich viele einstige Brennpunkte längst abgekühlt, ich denke da etwa an die mandschurischen Provinzen im Nordosten, die mittlerweile fast vollständig sinisiert sind. Ganz anders sieht es allerdings in Tibet oder in der uigurischen Provinz Xinjiang im fernen Westen aus. China könnte dort durchaus sein „Tschetschenien“ erleben. Selbst wenn die Ränder des Reiches aber ausfransen sollten: Neunzig Prozent der Bevölkerung sind Han-Chinesen! Ein „jugoslawisches Schicksal“ steht dem Reich der Mitte wohl kaum ins Haus. Das enorme Wohlstandsgefälle könnte aber zu sozialen Bürgerkriegen führen. Weggel: Im sozialen Bereich tickt in der Tat eine weitere Zeitbombe. Während etwa eine Stadt wie Shanghai westlichen Metropolen längst zum Verwechseln ähnelt, ist für eine Provinz wie Guizhou selbst der Begriff „Dritte Welt“ noch geschmeichelt. Darüber hinaus fühlt sich so mancher Augenzeuge bei Begegnungen mit der sozialen Wirklichkeit Chinas an Beschreibungen des Manchester-Kapitalismus bei Marx und Engels erinnert. Freilich dürfte China auch dadurch lediglich destabilisiert, nicht aber zerrissen werden, schon gar nicht durch Bürgerkriege. Chinas Aufstieg lebt davon, daß bisher nur wenig Sozialtransfers stattfinden. Wird sich dies in Zukunft nicht ändern müssen, so daß es zu Lähmungserscheinungen kommt? Weggel: Natürlich wird China in dem Moment, wo es auf soziale Herausforderungen verstärkt reagieren muß, gewaltig unter Druck geraten. An einigen Stellen hat Peking schon jetzt, also im ersten Halbjahr 2008, mit einer zweistelligen Inflation, mit einem zwölfprozentigen Rückgang seiner Exporte und mit aufgeblähten Aktienkursen zu kämpfen. Kommen dann auch noch höhere Ausgaben für soziale Leistungen, für den Ausbau der Infrastruktur, für höhere Löhne, für Armutsbekämpfung im ländlichen Raum und vor allem für Umweltreparaturen hinzu, so ist diese Zusatzbelastung nur mit Hilfe von Preisaufschlägen zu bewältigen. Spätestens dann dürfte es mit China als notorisch billiger Werkbank des Westens vorbei sein. Schon heute weichen manche Unternehmer auf andere Länder aus, etwa auf Vietnam. Ein weiteres soziales Problem geht von der Ein-Kind-Politik aus, in deren Gefolge China noch schneller altert als beispielsweise Deutschland. Bis 2050 hat das Land mit 300 bis 400 Millionen Rentnern zu rechnen, ohne daß dafür bisher ein auch nur annähernd ausreichendes Finanzierungspolster bereitgestellt würde. Es ist also einiges zu tun, damit China nicht erneut zum Sozialfall wird und damit es vor allem weiter in der ersten Liga mitspielen kann. Was ist Chinas Geheimnis? Weggel: Zum einen natürlich der Reichtum an Bodenschätzen und die so überaus günstige geo-ökonomische Lage, vor allem aber das auf den Konfuzianismus zurückgehende Wertesystem, das mit seiner Leistungs- und Sparethik, mit seiner Lernkultur, seinen Disziplinappellen und seinen Forderungen nach Unterordnung des Individuums unter die Belange der Gemeinschaft für ein Wirtschaftsklima gesorgt hat, das China auch im 21. Jahrhundert konkurrenzfähig bleiben läßt. Betrachtet man die Menschenrechtslage in China, müßte das Land allerdings strengstens boykottiert werden! Weggel: In der Tat wird in China nach wie vor diskriminiert, unterdrückt, verhaftet, gefoltert und hingerichtet. Von Tibetern und Uiguren war schon die Rede. Schlimm ist auch, daß sozial Schwache wie Wanderarbeiter, Flüchtlinge, Frauen oder Kinder sozialer Ausbeutung, Verwahrlosung oder schwerster Kriminalität wie Menschenhandel oder Zwangsprostitution ausgesetzt sind. Jeder kann dies in den Jahresberichten von Amnesty International nachlesen. Der Bericht für 2007 spricht von 2.790 Todesurteilen. Zudem werden Hingerichteten Organe entnommen und verkauft – ein makabres, aber lukratives Geschäft. Traurige Berühmtheit hat China auch mit Verfolgungen der buddhistischen Falun-Gong-Sekte erlangt. Doch was soll man dagegen tun? Boykottieren läßt sich ein 1,3-Milliarden-Staat wohl kaum. Auch eine Politik der Anbiederung, die Menschenrechtsverletzungen augenzwinkernd ignoriert, kann ernsthaft wohl kaum in Frage kommen. Verbleibt als einzige Option eine dritte Variante, nämlich der kritische Dialog, wie er sich in Form des „Wandels durch Annäherung“ bereits gegenüber dem einstigen Ostblock bewährt hat. Auch wäre zu bedenken, daß dem Konfuzianismus ein anderes Menschenbild vorschwebt als dem auf Individualrechte pochenden Westen. Ist im Westen nicht gerade dieser Individualismus zum Problem geworden? Weggel: Bei uns gilt in der Tat nur derjenige als demokratiefähig, der auch konfliktfähig – und konfliktbereit – ist: Man denke an die Gereiztheit in vielen Parlamenten, an die Arbeitskämpfe zwischen den Tarifparteien oder an die Rivalitäten zwischen zivilgesellschaftlichen Gruppen. In der konfuzianischen Welt herrscht demgegenüber Harmonie-Pflicht. In den klassischen chinesischen Betrieben betrachten sich Arbeitgeber und -nehmer meist nicht als Gegner, sondern als Mitglieder einer Familie. Arbeit, Kapital und Bürokratie sollen einander möglichst korporativ begegnen, statt sich zu bekämpfen. Hier herrscht mehr Ruhe, wenn sie häufig auch trügerisch sein mag. Wann wird uns China einholen? Weggel: Je nachdem, wie man rechnet: Gehe ich vom formalen Bruttoinlandsprodukt aus, so dürfte die EU bis 2050 rund 60 Billionen US-Dollar erwirtschaften, China dagegen nur 21. Legt man jedoch das Kaufkraft-BIP zugrunde, liegt die EU bis dahin bei 62, China aber bereits bei 71 Billionen Dollar – und hat uns damit bereits überholt! Wächst mit dieser ökonomischen Potenz auch der Hunger nach weltpolitischer Macht? Weggel: Das erwarte ich eigentlich weniger. Die Chinesen sind Kaufleute. Wo sie direkt nationale Interessen berührt sehen, wie in Grenzfragen gegenüber Japan oder Indien oder aber bei der Taiwan-Frage, werden sie ganz bestimmt mit dem Säbel rasseln. Im übrigen aber gehört militärisches Kalkül und damit einhergehender Expansionismus nicht zu ihrer Tradition. Kurzum, ich sehe weder einen neuen Kalten Krieg noch einen Kampf der Kulturen mit China. Im Gegenteil, für eine Wirtschaftsnation wie Deutschland ist China keine Gefahr, sondern eine Chance. Prof. Dr. Oskar Weggel gilt als einer der führenden Asien-Experten Deutschlands. Geboren 1935 in Passau, war er von 1968 bis 2000 Referent am Institut für Asienkunde in Hamburg ( www.asienkunde.de ) mit dem Forschungsschwerpunkt Volksrepublik China und Indochina. Er veröffentlicht regelmäßig in den Zeitschriften China aktuell und Südostasien aktuell, ist als Kommentator in Rundfunk und Fernsehen tätig und hat bisher über zwei Dutzend Asien-Bücher, vor allem über China, verfaßt, zuletzt: „China“ (C.H. Beck, 2002) China: Seit Ende des Bürgerkrieges 1949 ist China geteilt. Auf dem Kontinent entstand die kommunistische Volksrepublik China unter Mao Tse-tung. Die nationalistische Republik China unter General Tschiang Kai-schek, die den Bürgerkrieg verlor, vormals aber ganz China umfaßte, zog sich auf die Insel Taiwan zurück. Beide Staaten betrachten einander als abtrünnig. Heute hat die Volksrepublik 1,3 Milliarden, die Republik China 23 Millionen Einwohner. weitere Interview-Partner der JF