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Faszination und kaltes Erschrecken

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Faszination und kaltes Erschrecken

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War Reinhard Heydrich, allmächtiger Chef des Reichssicherheitshauptamtes, jüdischer Abstammung? War er der gedankliche Urheber der Massentötungen von Juden etwa in Auschwitz? War er als Stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren wirklich nicht mehr als der „Henker von Prag“? Vor über dreißig Jahren erschien von Günther Deschner eine Biographie der „blonden Bestie“, wie Reinhard Hey­drich von den Gegnern genannt wurde. Eine Auflage folgte der anderen. Übersetzungen in den USA, Großbritannien, Tschechien und Polen belegen, daß die Darstellung des Lebens der wohl rätselhaftesten führenden Persönlichkeit des Dritten Reiches ernst zu nehmen ist, ja, daß man sie wohl als Standardwerk bezeichnen kann. Nun kam die fünfte ergänzte und überarbeitete Auflage heraus mit einem neuen Titel: „Reinhard Heydrich — Biographie eines Reichsprotektors“, und sie kann tatsächlich über weite Strecken Neues mitteilen, das zutage kam, als die nach Moskau gebrachten Akten des Reichssicherheitshauptamtes nach 1990 endlich der Wissenschaft zur Verfügung standen. Heydrich, 1904 in einer hochmusikalischen bildungsbürgerlichen Familie in Halle an der Saale geboren, wollte Marineoffizier werden, doch stolperte er als Oberleutnant über eine Bagatelle, die heute nur noch ein Schulterzucken hervorrufen würde. Er mußte ausscheiden und suchte als Arbeitsloser eine Stellung, die seinen Neigungen entgegenkam. Beinahe zufällig erfuhr er 1930, daß Heinrich Himmler in München einen parteiinternen Sicherheitsdienst (SD) zur Ausforschung politischer Gegner aufbaute. Er bewarb sich, und Himmler stellte ihn für einen Hungerlohn ein. Daß er von der nationalsozialistischen Weltanschauung erfüllt gewesen wäre, davon kann keine Rede sein. Die Aufgabe interessierte ihn, und er konnte bald Erfolge aufweisen bei der Anwerbung von intelligenten und leistungswilligen jungen Männern. Aber dies kurze Karriere drohte zu scheitern, als ihn ein Gauleiter denunzierte, er sei jüdischer Abstammung. Eine gründliche interne Untersuchung belegte, daß es sich um unbegründeten Tratsch handelte. Als 1933 die NSDAP Regierungspartei wurde, avancierte Heydrichs Vorgesetzter Himmler zum Kommandeur der politischen Polizei in Bayern und zog Heydrich nach. Von nun an war aufgrund seiner überragenden Intelligenz und seines brennenden Ehrgeizes sein Aufstieg fast unaufhaltsam. Es gelang ihm, alle Polizeigewalt im Reich im Reichssicherheitshauptamt zusammenzufassen. Die Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission, der aus dreißig Staaten gebildete Vorläufer des heutigen Interpol, wählte ihn zum Präsidenten. Seine Sucht, stets nur Höchstleistungen zu erzielen, wirkte sich nicht nur im Beruf aus. Er war ein glänzender Säbelfechter, ritt vorzüglich, war ein sehr guter Skiläufer und Schwimmer und betrieb mit Erfolg modernen Fünfkampf. Aber auch als Sportschütze, Tennisspieler und Segler zeigte er überdurchschnittliche Leistungen. Er legte die Prüfung als Flugzeugführer ab, so daß er in den ersten Kriegsjahren, wenn er Erholung suchte, mit Einheiten der Luftwaffe im Westen wie im Osten Einsätze flog. Er sollte und wollte das „Judenproblem“ lösen. Sein Weg war es, die Juden aus dem Deutschen Reich zu verdrängen. Bis Oktober 1939 trieb er zwei Drittel aller im Reich lebenden Juden zur Auswanderung — oft in einger Zusammenarbeit mit zionistischen Organisationen. Als durch den Krieg diese Art der Auswanderung gestoppt wurde, plante er zuerst einen Judenstaat in Polen sowie — unter der Voraussetzung, daß man sich mit Großbritannien einigen könnte — nach Frankreichs Niederlage 1940 eine neue Heimstatt in Madagaskar. Zu Beginn des Rußland-Feldzugs bekam er den Auftrag, Einsatzgruppen zu bilden, die offiziell „in eigener Verantwortung besondere sicherheitspolitische Aufgaben hinter der Front erfüllen“ sollten. Als Kommandeure dieser Gruppen rekrutierte Heydrich seine höchsten SS-Führer, denen er allmählich die eigentlichen Aufgaben offenbarte — die Ermordung der Juden. Nur einer weigerte sich, der SS-Gruppenführer Bruno Streckenbach. Er bekam ein Frontkommando und wurde im Laufe des Krieges hoch ausgezeichnet. Allein im ersten Jahr nach dem 22. Juni 1941 fielen 300.000 Juden den Einsatzgruppen zum Opfer. Diese Aktion war aber nach Deschner keineswegs der Beginn der „Gesamtlösung der Judenfrage“, die in Auschwitz endete. Für die Massenvernichtung, für die ein Sonderbefehl Himmlers galt, war Hey-drich nicht mehr zuständig, wohl aber sei er als Mittäter zu bezeichnen. Im Herbst 1941 wurde Heydrich zum Stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren bestellt. Dieses hochindustrialisierte Gebiet war für die deutsche Rüstung von erheblicher Bedeutung. Eine sich ausbreitende, von England geleitete Widerstandsbewegung behinderte zunehmend die Produktion. Mit allen Vollmachten ausgestattet, sollte Heydrich das Reichsprotektorat „wieder in Ordnung bringen“. Das gelang ihm, indem er sofort nach Dienstantritt 404 in Haft befindliche führende Personen der Widerstandsgruppen sowie Schwarzhändler, Schieber und Wirtschaftsverbrecher — dabei ging er sowohl gegen Deutsche wie Tschechen vor — Sondergerichten überstellte, die sie zum Tode verurteilten. Die Begründungen wurden veröffentlicht und die beschlagnahmten zurückgehaltenen Waren unter die Tschechen verteilt. Heydrich stärkte die Gewerkschaften, verbesserte die tschechische Renten- und Sozialversicherung und erhöhte die Lebensmittelrationen. Damit schaffte er in der Bevölkerung einen Stimmungsumschwung zugunsten der deutschen Herrschaft. Nach wenigen Monaten konnte er den Ausnahmezustand aufheben. Die Produktivität der tschechischen Rüstungsindustrie stieg deutlich, womit Heydrich zu einem der gefährlichsten Gegner Großbritanniens wurde. Der Geheimdienst bildete in England Exil-Tschechen als Partisanen aus und setzte Gruppen über Böhmen ab, die Heydrich liquidieren sollten. Das gelang ihnen am 27. Mai 1942. Eine Woche später starb der Schwerverletzte. Er wurde mit großem Zeremoniell in Berlin zu Grabe getragen. Deschner schildert Heydrich als den Typus eines wertfrei empfindenden technokratischen Managers. Irgendwelche Hemmungen, seine Aufträge bestmöglich auszuführen, kannte er nicht. Bedenkenlos wendete er seine Macht an, um das Ziel entweder mit Zuckerbrot oder mit Peitsche zu erreichen, Bindung an eine höhere Macht war bei ihm nicht zu erkennen. Deschner nennt ihn einen „modernen Heiden“. Sein in wohltuend klarem Deutsch geschriebenes Buch läßt den Leser nicht los, der hin- und hergerissen wird zwischen Faszination und kaltem Erschrecken. Günther Deschner: Reinhard Heydrich — Biographie eines Reichsprotektors. 5. überarbeitete und ergänzte Auflage. Universitas Verlag, München 2008, gebunden, 438 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro Foto: Heydrich als SS-Brigadeführer in seinem Münchner Büro 1933: Wertfreier technokratischer Manager

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